Erhoffte Hoffnungslosigkeit. Frank Witzel

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Erhoffte Hoffnungslosigkeit - Frank Witzel

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Bewegung des Werdens und Vergehens bewusst aufhalte.

      Man könnte diese zyklische Bewegung, ähnlich der Bewegung von Ebbe und Flut, mit dem Weil’schen Begriff der »Entschaffung« (décreation) bezeichnen: eine Entschaffung der Normalität, die von einer Entschaffung des An-sich-Verrücktseins abgelöst wird. Nur wenn ich bereit bin, verrückt zu werden und verrückt zu vergehen, um erneut verrückt zu werden und wieder verrückt zu vergehen und immer so weiter, kann ich für mich sein. Es ist ein Vorgang wie das Atmen, eine beständige Entschaffung, somit eine beständige Ruhelosigkeit.

      Deshalb kann ich im Verrücktwerden, auch wenn ich den Zustand des Verrücktseins fürchte, ihn besonders fürchte, weil ich in ihm tatsächlich nicht mehr bewusst sein werde, ihn gleichzeitig herbeisehnen, weil sich im Verrücktsein die Ruhelosigkeit aufhebt, ich nicht länger werde und vergehe, sondern wieder sein kann, auch wenn ich im An-sich-Sein nichts mehr bewusst von diesem Sein erfahre.

      Ist nur das bewusst Erfahrene eine Erfahrung?

      Das Verrücktwerden ist vielleicht nur deshalb bedrohlich, weil das Werden generell als ein zu überwindender Zustand angesehen wird, dessen Dauerhaftigkeit mich in Unruhe versetzt, vor allem dann in Unruhe versetzt, wenn ich nicht weiß, wohin dieses Werden führt, dieses Werden mir zudem unnütz erscheint, da es unmittelbar vom Vergehen »entschaffen« wird.

      Wenn diese Aufzeichnungen so klingen, als sei ich verrückt geworden, so mag das einerseits stimmen, gemäß dem landläufigen Gebrauch dieses Begriffs. Aber das Verstiegene, Obskure, Arkane dieser Aufzeichnungen ist allein dem Versuch geschuldet, eine Form der Darstellung des Nicht-Darstellbaren zu finden. Es mag natürlich dennoch in gewisser Weise stimmen, dass ich mithilfe eines philosophischen Vokabulars Theorien konstruiere, die weder Hand noch Fuß haben. Leicht könnte mir ein Psychiater nachweisen, dass ich von Verrücktsein und Wahnsinn keine Ahnung habe. Und ich würde ihm sofort zustimmen, nicht nur, weil nach meiner Theorie der Wahnsinnige in seinem An-sich-Verrücktsein nichts von seinem Wahnsinn weiß, sondern weil ich wirklich keine, wirklich nicht die geringste Ahnung vom Wahnsinn habe. Es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass ich selbst diese Aufzeichnungen zu einem anderen Zeitpunkt als im herkömmlichen Sinne »verrückt« (auch im Sinne von »bekloppt«) ansehen werde. Dennoch habe ich sie geschrieben und dennoch meine ich, auch wenn ich mich irre, dass dieses Schreiben, vielmehr dieses Reflektieren über meinen Zustand, gleichgültig, ob ich mich über diesen Zustand im Irrtum befinde oder nicht, etwas ausdrückt oder versucht, sich einem Ausdruck anzunähern. Und wenn diese Aufzeichnung über meine momentane »Rettung« hinaus nur eins bewirkt, nämlich aufzuzeigen, dass es Zustände gibt, die sprachlich schwer oder gar nicht zu fassen sind.

      Es ist vielleicht vergleichbar mit den Visionen eines Mystikers, die der Kurie zur Bewertung vorgelegt werden. Letztlich können die Mitglieder des Ausschusses nur entscheiden, ob sich diese Zeugnisse noch innerhalb der Lehre befinden. Über die Qualität der Offenbarung aber können sie kein Urteil fällen.

      Für mich ist die Qualität oder der Gehalt dieser Aufzeichnungen nicht entscheidend, da sie ihren Wert für mich im Vorgang des Aufschreibens selbst haben. Öffnet sich hier vielleicht eine Tür zu einer anderen Möglichkeit, Kunst und Literatur zu begreifen, indem das Geschriebene nicht länger primär wegen seiner Aussage gelesen wird, sondern als abgelegtes Zeugnis für eine Erfahrung? Eine Gratwanderung, denn es könnte natürlich auch dem Phänomen des dilettantischen Aquarellierens ähnlich sein, bei dem während des Malens alles so wunderbar ineinanderfließt und so enttäuschend aussieht, sobald das Blatt getrocknet ist.

      12.12.2018

      »Die Verunsicherung des Werdens«: ein schöner Titel, dessen Geschmeidigkeit allerdings die existenzielle Dramatik verbirgt. Letztlich verbirgt Sprache immer die Dramatik des Seins, weil der, der spricht, so tut, als habe er etwas überwunden. Aber auch wenn er es nicht »wirklich« überwunden, das heißt bewältigt, hat, so hat er es auf eine bestimmte Weise doch überwunden, indem er darüber spricht. Das Darüber-Sprechen zeigt diese »Überwindung« an, nicht der Inhalt dessen, was gesagt wird. So habe ich mich gestern mit der Erzählung meines Zustands aus diesem Zustand selbst befreit, letztlich, weil mir der Glaube (im Sinne von »Vertrauen«) fehlte, der Glaube, der mich hätte schweigen und damit sein lassen.

      Andererseits, wie man an Scheherazade in der Schlafkammer oder an Schweijk vor dem Erschießungskommando oder an mir hier in diesen Aufzeichnungen sehen kann, gelingt es mit dem Reden tatsächlich, den Tod aufzuhalten, allerdings muss dieses Reden auch immer ein Reden im Anblick des Todes sein. Tatsächlich lässt sich der Tod natürlich nicht aufhalten, sondern nur eine bestimmte Todesdrohung zeitweise zurückstellen. Ich glaube, dem Tod »von der Schippe« gesprungen zu sein, aber, wie das Bild bereits verrät, bin ich lediglich seinem Gehilfen, dem Totengräber, von der Schippe gesprungen und muss nicht in dieses eine, bereits ausgehobene Grab. Dafür eben in ein anderes.

      Der Unterschied zwischen verrückt und entrückt: ich verrücke mich selbst (werde selbst verrückt), eine andere (göttliche) Macht entrückt mich (ich werde entrückt). Wenn ich also im Verrücktwerden meinen Glauben (der selbst bereits eine Form der Verrücktheit ist) bewahren kann, mehr noch, wenn ich mich der Verrücktheit wirklich hingeben kann, dann werde ich nicht verrückt, sondern lediglich entrückt. Entrückung und Verrückung unterscheiden sich lediglich durch ihre jeweilige Form der Hingabe an den Moment, die Hingabe an das andere, mich Verrückende, das ich über meine Wahrnehmung stelle. So könnte mich der Glaube vom Verrücktwerden bewahren, weil er das Verrücktwerden in ein Entrücktwerden verwandelt. Dieser Glaube müsste aber bereits vor dem Verrücktwerden existieren, weil ich im Verrücktwerden die Unterscheidung von Wissen und Glauben verliere. Dass der zuvor existierende Glaube im Verrücktwerden weiter besteht, wäre ein Zeichen der Normalität. Der Glaube ist so stark, dass er selbst im Verrücktwerden nicht verloren geht, sondern »hilft«.

      Warum kann ich nur um Glauben beten, nicht aber um Wissen? Weil ich für das Wissen immer selbst verantwortlich bin, für den Glauben hingegen nicht? Weil dem Wissen immer der Sündenfall, die Abkehr von der Einfalt der Unkenntnis, mit eingeschrieben ist? Oder weil sich die Handlung des Betens nur auf den Glauben beziehen kann, selbst wenn ich das Wissen suche? Bedeutet das »Geheimnis des Glaubens« vielleicht gerade das: »Du hast das Wissen gesucht und dadurch den Glauben gefunden«? Kann ich nur glauben, weil ich wissen wollte? Und weiter: Kann ich nur das Wissen wollen, nicht aber den Glauben? Lautet die Definition des Glaubens: Das, was nicht gewollt werden kann?

      Ich meine plötzlich den banalen Satz aus dem Matthäus-Evangelium (»Sei getrost, meine Tochter, dein Glaube hat dir geholfen«) bislang falsch verstanden zu haben, nämlich als eine Art des Lobes (»Weil du an mich geglaubt hast, wirst du von mir geheilt«), und jetzt richtig zu verstehen, nämlich als Hinweis auf das eigentliche Heilmittel (»Es ist nicht wichtig, dass du an mich oder an was auch immer geglaubt hast, es war dein Glaube selbst, der dich geheilt hat«).

      Beim Verzücken im Vergleich zum Entzücken verhält es sich genau umgekehrt wie beim Verrücktwerden im Vergleich zum Entrücktwerden. Hier ist das Verzücken ein von außen auf mich einwirkender Vorgang, den ich passiv erleide, während das Entzücken aktiv vollzogen wird. Die Verzückung gehört zum Entrücktwerden, das Entzücken zum Verrücktwerden.

      Mein vermeintlicher Wahnsinn zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass meine Wahrnehmung an Bedeutung verliert und meine Meinung an Bedeutung gewinnt. Ich schließe nicht mehr aus dem Wahrgenommenen auf eine mich umgebende Realität, sondern ich »weiß«, dass das, was ich wahrnehme, nicht real ist, sondern die Realität allein verbirgt. Was aber ist es, das ich wahrnehme? Letztlich nichts. Ich kann nicht mehr wahrnehmen, weil mein Meinen (oder ist es doch ein Fühlen?) meine Wahrnehmung so stark dominiert, dass dort nichts mehr ist. Ich nehme das Nichts wahr. Ich nehme also etwas wahr, was ich nicht wahrnehmen kann. Weil ich das Nichts nicht wahrnehmen kann, meine ich eine Scheibe vor mir zu sehen, die deshalb unheimlich ist, weil ich »weiß«, dass ich sie nur wahrnehme,

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