Erhoffte Hoffnungslosigkeit. Frank Witzel

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Erhoffte Hoffnungslosigkeit - Frank Witzel

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das heißt, man meint zu wissen, was man sein will, auf der anderen Seite etwas imitieren, weil man nicht weiß, was man sein soll.

      Kann ich denken imitieren? Kann ich Sexualität imitieren? Eine Erektion imitieren, ohne zu begehren? Worin würden sich diese Erektionen von einer »wirklichen« Erektion unterscheiden? Das Schreiben lässt sich imitieren, ich kann vorgeben, etwas zu können, was ich nicht kann, und so lange Zitate nebeneinandersetzen, bis man meint, ich hätte etwas verstanden, aber das Denken selbst kann ich nicht imitieren, ich kann allerdings vorgeben, es zu tun. Ist Vorgeben immer nur für andere, Imitieren immer für einen selbst? Vorgeben nach außen gewandt, imitieren nach innen?

      Dann ist das hier kein Schreiben, sondern Denken. Es kann nichts vorgeben und weiß nichts zu imitieren – selbst dort, wo es natürlich dennoch vorgibt und selbstverständlich auch imitiert.

      13.12.2018

      Warum halte ich jetzt bereits den dritten Tag an einer Erfahrung fest, die doch von außen betrachtet so unbedeutend erscheint, so banal, dass ich sie genauso gut auch hätte übergehen oder schlicht und einfach vergessen können? Nur weil ich für einen Moment meinte, verrückt zu werden oder verrückt geworden zu sein? Und ist nicht vielleicht dieses Meinen das »Verrückte«?

      Ist es nicht eigenartig, dass ich nichts von meinen Gefühlen schreibe, sondern unmittelbar eine relativ sachliche Beschreibung meiner Wahrnehmung beginne und mich in ihr und ihrer Einordnung verliere, und dass ich bereits jetzt, zwei Tage später, nicht mehr sagen könnte, was genau ich gefühlt habe, obwohl es doch das Gefühl war, verrückt zu werden, das mich überhaupt dazu brachte, meinen Zustand zu beschreiben, mich mit den Formen der Wahrnehmungen zu beschäftigen?

      War es vielleicht so, dass genau dieses entsprechende Gefühl (etwa der Panik, des inneren Aufruhrs etc.) fehlte, dass es die völlige Ruhe war, mit der ich die Feststellung, verrückt zu werden, traf, die diesem Erlebnis seine Bedeutung verlieh? War aber diese Feststellung unter Umständen nichts weiter als eine Interpretation, obwohl ich doch lediglich »Eigenartig!« hätte sagen und aufstehen können? Kann man einem Wahnsinn entkommen, indem man ihn übergeht? Ist das vielleicht das Kennzeichen des »normalen« und »gesunden« Menschen, dass er in der Lage ist, Dinge zu übergehen, zu übersehen, zu überhören? Und bewahren diese Begriffe nicht das Übergangene in sich, das, was über sie hinausgeht?

      Ich habe mich mehr oder minder bewusst in eine analytische Sachlichkeit geflüchtet, um dem Wahnsinn zu entkommen, und stoße genau in dieser Sachlichkeit auf den eigentlichen Wahnsinn. Oder anders: Es ist das beständig Ungesagte, Ungefühlte, das ich mit einem Mal als tatsächlich unsagbar und unfühlbar empfinde. Meine Illusion, von der ich bislang nichts wusste, das Ungesagte einmal zu sagen, das Ungefühlte einmal zu fühlen, hatte sich aufgelöst, beinahe wie nebenbei, unauffällig, sodass ich diese Auflösung auch hätte verpassen können. Ist es also gar kein Versagen, dass ich die Banalität der Situation nicht habe übergehen können, vielmehr eine Fähigkeit? Es sind vor allem die Zweifel, die dieses Erlebnis hinterlässt, Zweifel von einer ganz anderen Natur, als ich sie bislang kannte. Viel grundsätzlicher, ohne dass ich diese Grundsätze benennen könnte. Es ist eben nicht die große Erschütterung, das Infragestellen von allem Bisherigen, sondern genau das Gegenteil, das Fehlen all dessen. Es geht quasi um die »feinen« Unterschiede. Es geht um das Kaum-Wahrnehmbare. Und der Zweifel, der sich hier auftut, ist deshalb so groß, weil er aus so Geringem entsteht.

      Die Gnade des Versäumens.

      Entsprechend waren meine Träume in den letzten Nächten. Es passierte nichts weiter in ihnen, außer – und erst jetzt fällt mir auf, dass sie mir diese Möglichkeit des Nacherlebens gaben – diesen feinen Unterschied in der Wahrnehmung noch einmal zu spüren. Ich stand zum Beispiel an einem Sommertag in einem Hof und schaute an den Hauswänden hoch zum blauen Himmel. Das war alles – zumindest erinnere ich es so. Und doch war etwas anders. Es wäre übertrieben, würde ich sagen, dass ich diese Szene, vor allen Dingen die Fassaden der Häuser, gleichzeitig aus einer anderen Perspektive sah, und dass sie in dieser Perspektive eigenartig flach und eindimensional wirkten. Die Unterschiede in der Wahrnehmung waren feiner, unbedeutender, und genau das gab ihnen ihre Bedeutung. Ich ging den Hof entlang, und aus einem Ladengeschäft kam ein Mann mit einem Teller, auf dem ein Plunderstückchen lag. Und auch hier wäre es übertrieben, maßlos übertrieben, würde ich sagen, dass ich im selben Moment, eigentlich noch bevor ich das Stückchen auf dem Teller sah, es bereits schmecken konnte. Dennoch ging meine Wahrnehmung in diese Richtung, ich konnte quasi auf Entfernung schmecken, so wie man etwas auf Entfernung sieht oder hört. Aber auch das ist eigentlich banal, jeder, der hungrig in einem Laden steht, meint die Dinge zu schmecken, die er sich gleich kaufen wird. Und dennoch war es so und war es so gleichzeitig nicht. Vielleicht war es überhaupt diese Gleichzeitigkeit unterschiedlicher, leicht gegeneinander verschobener Wahrnehmungen, die das Eigenartige dieses Moments ausmachte. Vielleicht ist es gerade diese erstaunliche »Sachlichkeit«, das Fehlen von Gefühlen, überhaupt das Fehlen von allem, was ich gemeinhin mit dem Wahnsinn in Verbindung bringen würde. Vielleicht ist es die Erkenntnis, tatsächlich nichts wirklich von meinen Erfahrungen, besser meinen Erfahrungsmöglichkeiten, zu wissen. Selbst die Vorstellung, alles nur wie hinter einem Schleier wahrzunehmen, speist sich aus dieser falschen Vorstellung. Jede Idee von einer Erkenntnis beruht auf völlig verkehrten Prämissen. Alles, was es bedurfte, war diese leichte, diese beinahe unmerkliche Verschiebung. Eine kaum wahrnehmbare Erschütterung.

      Ist es eigentlich Vernunft oder Wahnsinn, wenn man ganz sachlich bei allem, was man wahrnimmt, gleichzeitig wahrnimmt, dass es auch anders wahrgenommen werden könnte? Ist es vielleicht wirklich nur diese Möglichkeit einer anderen Wahrnehmung, die hier auftaucht, kaum merklich zwar, jedoch beständig da und alles begleitend?

      Es stimmt natürlich nicht, dass diese Möglichkeit beständig da ist, ganz im Gegenteil, sie war lediglich für einen Moment da, ein Moment, der mir mittlerweile so kurz und unbedeutend erscheint, dass ich auch meinen könnte, ihn mir eingebildet zu haben. Genau das aber zeichnet diesen Moment aus, verleiht ihm seine Kraft: Diese Verschiebung ist so unmerklich, dass ich nicht einmal weiß, ob sie nun da ist oder nicht. Sie hat einen nachhaltigen Zweifel gesät. Dieser Zweifel bleibt bestehen, weil ich ihn nicht beschreiben, ihn nicht kategorisieren, nicht einordnen kann. Je mehr ich es versuche, beinahe notwendigerweise versuche, um ihn abzuschütteln, ihn loszuwerden, desto weiter breitet er sich aus, befällt alles, was ich versuche, ihm als Erklärung entgegenzustellen.

      Alles hat sich verändert, weil sich dort nichts verändert hat, wo sich doch alles hätte verändern müssen. Genau aber in solchen Formulierungen zeigt sich das Problem: Dem Bewusstsein geht es um die großen Kategorien, um Entweder-Oder, Alles oder Nichts usw. Alles andere sind Unterkategorien, die zur Stärkung der großen Dichotomien beitragen, hinter denen sich lediglich die eine Grund-Dichotomie von Ich und Nicht-Ich versteckt. Es geht darum, auf dem Kategorielosen, dem Nicht-Einordbaren, auf den minimalen Unterschieden zu beharren.

      Und auf gar keinen Fall ist die Sprache das Haus des Seins. Bestenfalls ist die Sprache das Gefängnis des Seins. Barthes hat die Sprache völlig zu Recht faschistisch genannt, weil sie zum Sprechen zwinge. Es gilt, gegen die Sprache »an zu sein«. Sprachlosigkeit als Waffe.

      14.12.2018

      Vielleicht liegt im Verrücktwerden auch die Weigerung, sich zu verändern, in eine andere Logik einzutreten. Obwohl man es muss, weigert man sich – und wird verrückt.

      Gibt es ein Äquivalent des Verrücktseins für den Körper? Was würde Verrücktsein in Bezug auf den Körper bedeuten? Ist das Verrücktsein des Körpers lediglich eine Unfolgsamkeit dem Willen gegenüber? Und doch käme man nie darauf zu sagen: »Mein Arm ist verrückt geworden«, sobald er eine unwillkürliche Bewegung ausführt oder nicht mehr gehorcht. Der Körper ist also doch lediglich ein Instrument, dessen ich mich bediene,

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