Ausgesoffen. Jörg Böckem

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Ausgesoffen - Jörg Böckem

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ich mir nicht verderben.

      Kurz vor dem Interview wurde die Anspannung unerträglich. Mein Puls raste, meine Finger zitterten, Schweiß stand auf meiner Stirn. Ich war kurz davor, die Kontrolle zu verlieren. Sicher, in so einer Situation aufgeregt und angespannt zu sein ist nicht nur normal, es kann sogar motivieren, die Sinne und die Konzentration schärfen. Aber nicht diese Art der Nervosität, sie war unkontrollierbar, alles beherrschend, destruktiv und belastend. Unmöglich, in diesem Zustand ein Interview zu führen!

      Ich ging an die Bar des Cafés, bestellte einen doppelten Cognac und kippte ihn mit einem Schluck hinunter. Nach wenigen Augenblicken breitete sich die Wärme des Alkohols in meinem Magen aus und dämpfte meine Nervosität und die Angst vor dem Versagen. Mein Puls normalisierte sich halbwegs, und meine Hände gehorchten mir wieder. Jetzt war ich einsatzfähig.

      Das Interview wurde ein Erfolg. Wir sprachen über Wut, seine Liebe zur Literatur und seine deutschen Wurzeln. Am Ende bedankte sich John McEnroe für das angenehme Gespräch und lud mich zum Essen ein. Als der Beitrag schließlich in der »Sportschau« lief und in verschiedenen Zeitungen ausführlich zitiert wurde, wuchs ich vor Stolz einige Zentimeter. Die Freude an der Arbeit und meiner Leistung berauschte mich stärker als der Cognac. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, den Alkohol als Problem zu sehen, im Gegenteil, er war Teil der Lösung: ein Baustein meines Erfolges, ohne den ich der Situation wohl nicht gewachsen gewesen wäre.

      Hoch fliegen

      Carlo sah mich mit glasigem Blick an. »Meinst du, ich kann das schaffen?« Er saß in kurzer Sporthose und ärmellosem Hemd auf der Holzbank in der Umkleidekabine der Sporthalle der Hauptschule Simmerath. Die Anspannung ließ ihn zittern, Gänsehaut überzog seinen gesamten Körper, einem Erstickenden gleich zog er an seiner Zigarette. 1,97 Meter pure Emotion, auf mich wirkte er wie eine Art archaisches Wesen, roh, aufgewühlt, ungeschützt – ein zwei Meter großer Embryo. »Klar schaffst du das. Du gehst jetzt da raus und springst«, sagte ich. Die Latte lag auf 2,40 Meter, 1987 eine Demarkationslinie des Hochsprungs. Ein Sprung über diese Höhe war bis zu diesem Tag, dem 16. Januar 1987, noch niemandem gelungen, der Weltrekord.

      Seit drei Jahren organisierten wir an einem Januarwochenende das Hochsprung-Meeting Simmerath. Alles hatte mit einer Party begonnen, die Carlo 1983 zusammen mit seiner Familie und befreundeten Hochspringern feiern wollte. Als absehbar war, dass sich tatsächlich eine große Zahl an Topathleten unter den Gästen befinden würde, beschlossen wir spontan, der Feier ein Springen in der örtlichen Sporthalle voranzustellen. Mittlerweile zog die Veranstaltung – möglicherweise auch die inzwischen legendäre Party im Anschluss – alljährlich die Hochsprungerelite in unser kleines Eifeldorf. Alle kamen: die deutschen Topspringer Dietmar Mögenburg, Gerd Nagel und Ralf Sonn, der Schwede Patrik Sjöberg, die Amerikaner Dwight Stones und Jerome Carter, der polnische Olympiasieger Jacek Wszoła, der Russe Rudolf Powarnizyn und Javier Sotomayor aus Kuba, der den Hochsprungweltrekord zwei Jahre später auf 2,43 Meter schrauben und vor den Olympischen Spielen 2000 wegen Kokaindopings gesperrt werden würde. Ihm mussten wir seine Antrittsgelder in bar aushändigen, unbemerkt von seinem Trainer und Betreuer. Sonst wäre er, wie im kommunistischen und diktatorisch regierten Kuba üblich, gezwungen gewesen, das Geld seinem Verband auszuhändigen. Also falteten wir die Geldscheine so klein wie möglich, verbargen sie in der Handfläche und übergaben sie ihm heimlich bei der Begrüßung.

      Schon das Springen selbst war eine große Party. In der Sporthalle herrschte Diskothekenlautstärke, jeder Springer lief zu seiner persönlichen Begleitmusik an. Das Meeting war ein Familienprojekt, meine Eltern verschickten die Einladungen, Carlo rekrutierte die Athleten, meine Freundin entwarf die Plakate. Meine Aufgabe war es, gemeinsam mit Carlo im Vorfeld Sponsoren zu finden und vor allem die Halle und das anschließende Fest vorzubereiten und für einen reibungslosen Ablauf der Veranstaltung zu sorgen. Ich war für jede Heftklammer, jedes Lautsprecherkabel, jeden Stuhl und jede Werbebande verantwortlich, verlegte mit Hilfe von Freiwilligen, die ich im örtlichen Sportverein rekrutiert hatte, die Matten und sorgte für den Aufbau der Sprunganlage. Viel Zeit blieb dafür nicht, der Umbau der Halle musste in einem Tag und einer Nacht vonstattengehen. Ich arbeitete unter Hochdruck. Alles sollte perfekt sein.

      Der Wettkampf in seinem Heimatdorf, vor den Augen seiner Familie, hatte die Nerven meines Bruders aufs Äußerste strapaziert. Wenige Stunden vor Beginn des Springens hatte er unter Fieberschüben gelitten und sich noch geweigert, sein Bett zu verlassen. Seine Anspannung übertrug sich auf uns. Mein Vater verließ die Halle, noch bevor Carlo anlief. Er fuhr in die nächste Kneipe und genehmigte sich ein Bier und einen Schnaps zur Entspannung.

      Ich fieberte mit meinem Bruder. Sah, wie er die Laufbahn betrat. Und zunächst stockte, mit wütendem Blick in die Runde sah. Meine Freundin hatte versehentlich die falsche Musik eingelegt, ein Sakrileg. Als dann die ersten Töne von Europes »The Final Countdown« aus den Boxen dröhnten, versank er in sich selbst, sein Gesicht eine Maske vollständiger Konzentration. Er lief an. Dieses Mal würde er es schaffen, der Rekord würde fallen. Dessen war ich mir schon bei seinen ersten Schritten sicher. Tatsächlich, er übersprang die 2,40 Meter im ersten Versuch, überwand als erster Mensch diese magische Grenze. Laut schreiend riss er die Arme hoch, tobte wie ein Derwisch durch die Halle. Ich rannte auf ihn zu, riss ihn in meine Arme. Er war aufgelöst und fassungslos, beinahe verstört, konnte das Glücksgefühl kaum verarbeiten. Mir ging es ähnlich. Mein kleiner Bruder war Weltrekord gesprungen. Er war jetzt einer von denen, die wir früher gemeinsam im Fernsehen bewundert hatten, Sportler, die in einer anderen Welt zu existieren schienen. Es war schier unfassbar. Auf diesen Augenblick schien alles in seinem Leben hingelaufen zu sein.

      In diesem Moment fühlte ich mich meinem Bruder tief verbunden. Ich sah den erwachsenen Athleten und gleichzeitig den kleinen Kerl, den ich als Dreijähriger auf der Ladefläche meines Plastiktraktors transportiert hatte. Den Jungen, mit dem ich in unserem Garten um die Wette gelaufen war, den Teenager, an dessen Seite ich Handball gespielt hatte. Carlo, der Schulverweigerer, mein sensibler, schüchterner Bruder, hatte seinen Platz in der Welt gefunden, mehr noch, er hatte es dort bis ganz nach oben geschafft, in jeder Hinsicht. Das vor allem löste eine wilde Freude in mir aus.

      Die folgende Party war so himmelstürmend wie die Sprünge zuvor. In großer Runde aßen und tranken wir in einer Gaststätte im Nachbarort, im Anschluss feierten wir im engen Kreis im Haus meiner Eltern weiter. Die Stimmung war ausgelassen und euphorisch, ein Gewirr unterschiedlicher Sprachen erfüllte den Raum, aber jeder schien jeden zu verstehen, alle Grenzen waren verschwunden, Herkunft, sportliche Konkurrenz, nichts davon spielte mehr eine Rolle. Wir waren Freunde, Familie, lachten und tranken. Ich schwebte durch den Raum, genoss die Wärme, die Nähe, das Miteinander, den Zusammenhalt, flog einer Flipperkugel gleich von einem zum anderen. Meine gute Laune warf ich in vollen Händen wie Kamelle unter das Feiervolk, die anderen griffen freudig zu. Bald war ich ein Zentralgestirn der Party, die anderen Gäste kreisten in meiner Umlaufbahn, mein Magnetismus, so schien es mir, hielt alles und jeden in Bewegung.

      Ich war wie losgelöst, berauscht, glückdurchströmt, trank Champagner, Bier, Malteser. Der Alkohol war Entspannungsmittel, Stimmungsbeschleuniger, Kommunikationstreibstoff und Belohnung. Ich hatte diese Veranstaltung, die im Weltrekord meines Bruders gipfelte, und die dazugehörige Party organisiert, hatte sozusagen das Feld bestellt, auf dem die sportlichen und festlichen Höhepunkte dieses Tages gedeihen konnten. Jetzt konnte ich mich gehen lassen. Wer hart arbeitete, hatte jedes Recht, ebenso hart zu feiern. Mehr noch, beides war untrennbar miteinander verbunden. Ich wollte allen zeigen, wie eine Hochleistungsparty auszusehen hatte, und nebenbei, wie viel ich vertrug. Die anderen sprangen vielleicht höher als ich, aber beim Feiern und Trinken konnte niemand mit mir mithalten. Ich war der Hochleistungsorganisator, der Hochleistungsstimmungsmacher und der Hochleistungstrinker unter den Hochleistungssportlern. Kurz, ich war in meinem Element.

      Dass mein Bruder, selbst kein Asket und weit davon entfernt, sich von Sport-Puristen seine Zigaretten und sein Bier madig machen zu lassen, mich zunehmend nervös und angespannt beobachtete, immer auf dem Sprung, eine mögliche Entgleisung zu verhindern, bemerkte

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