Das Buch vom Bambus. Vladislav Bajac
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Das Buch vom Bambus - Vladislav Bajac страница 18
Seit ich hier bin, gibt es nur einen Bambus, dessen Geheimnis ich nicht völlig lüften konnte, und das ist der Kikko-chiku, der Schildkrötenbambus. Ich habe ihm seinen Namen nach den kreuzgefächerten Mustern der Stämme gegeben, wodurch jedes Segment einem Schildkrötenpanzer ähnelt. Seltsam ist, dass diese Merkmale manchmal verschwinden, sodass der Stamm wieder ein normales Aussehen erhält. Die Ursache für diesen eigenwilligen Abstecher habe ich nie herausfinden können. Als diese seine Angewohnheit bekannt wurde, haben gierige Menschen ihm natürlich größere Aufmerksamkeit gewidmet. Überall entstanden Plantagen mit Schildkrötenbambus, doch ein jeder erlebte eine Enttäuschung: Wer ihn pflanzte, um daraus Nutzen zu ziehen, dem gelang es nicht, aus ihm eine »Schildkröte« zu machen. Er wuchs wie jeder andere gewöhnliche Bambus und gab seinen Prunk nicht preis. Ich habe im Hain des Herrschers nicht mit solchen Dingen gehandelt. Neugierigen erlaubte ich, ihn zu besichtigen. Für sie war er dennoch nur eine Kostbarkeit.
Mit zwei Bambusarten habe ich, lange Jahre experimentierend, große Erfolge erzielt. Vom Madake züchtete ich eine Unterart, die ich schnell wachsenden Bambus nannte. Die besten Exemplare waren sage und schreibe imstande, innerhalb von vierundzwanzig Stunden einhundertundzwanzig Zentimeter zu wachsen. Aber auch mit dieser wie mit jeder weiteren Art, mit der ich etwas erreichte, geschahen seltsame Dinge. Das eine oder andere Exemplar kam mir abhanden, ohne dass ich es jemals wiederfand. Mit der Zeit begann ich meine Notizen zu verstecken, die ich bei der Beobachtung der Veränderungen und Neuheiten an den Exemplaren machte.
Hier hielt Sung ein. Daher stammte also das von den Daimyōs mitgebrachte Folterinstrument für den Shogun. Wegen dieser Entdeckung war ihm gar nicht wohl. Obuto Nissan schien mit ihm ein unsichtbares Gespräch zu führen. Die folgenden Sätze bestätigten das.
Mir kamen auch mehrere Triebe des Riesenbambus abhanden, den ich durch Kreuzung von Grünem mit birmanischem Bambus gezüchtet hatte. Das waren Triebe einer Art, die eine Höhe von über sechsunddreißig Metern und einen Durchmesser von dreißig Zentimeter erreichen kann. Während ich diese Pflanze erforschte, kam mir nie das menschliche Böse in den Sinn, diese Saat, die schneller als auch dieser Bambus aufging. Als ich begriff, dass eine bestimmte Anzahl von Arten, die an der Stammoberfläche einen Flaum aufweist, schädlich für denjenigen sein kann, der ihn in die Haut einreibt, wodurch die Härchen ins Blut gelangen und dafür sorgen, dass er unter größten Qualen zugrunde geht, ohne dass ihm geholfen werden kann, habe ich alle Aufzeichnungen dazu tief in der Erde vergraben, damit sie auch für mich in Vergessenheit geraten. Bei der Erforschung aller möglichen Eigenschaften einzelner Arten konnte ich allerdings die vernichtenden Erkenntnisse, zu denen ich gelangt war, nicht beiseitelassen. Ich konnte mir nur denken, was einem Menschen passieren würde, der diese feinen Härchen, die der Pflanze zum Schutz dienen, unter die Haut bekäme, und wenn diese ihre naive Schlacht begännen, mit einem zunächst schwachen und dann immer stärkeren Juckreiz. Und ein beabsichtigter Mord erst! Dieser Flaum ließe sich mit Nahrung vermischen und könnte so direkt und schnell in die Organe gelangen. Einem solchen Tod zuzusehen wäre schlimmer als ihn selbst zu erleben. Die Ursache für solch einen Tod könnte niemals aufgedeckt werden, es sei denn, der Mörder gäbe sein Verbrechen selbst zu. Und die Frage ist, ob selbst dann das Verbrechen zu beweisen wäre.
Es ist ein Glück, dass ich weitaus weniger an derartigen Entdeckungen machte als all die anderen, die den Menschen von Nutzen waren. Also, ich will fortsetzen mit …
Hier brach die Handschrift ab. Oder, besser gesagt, weitere Seiten waren nicht in Sungs Besitz. Sollte der Text vor Nissans Tod vollendet worden sein, konnte sich Sung vorstellen, was sein Inhalt war. Irgendwo in seiner Hütte oder in den Bambushainen oder bei irgendjemandem mussten weitere mit Wundern gefüllte Seiten vorhanden sein. Natürlich war Sung überglücklich auch über die wenigen Sätze, deren Aussagen die Anzahl weit übertrafen.
XVII
Ich hatte den Rōshi zufriedengestellt?! Ich hatte vor allem mich selbst zufriedengestellt. Die Worte, die er an mich gerichtet hatte, waren vollkommen klar. Ich musste mich nicht fragen, ob er etwas ahnte. Er weiß alles! Er weiß, wer ich bin! Seit wann? Das ist unwichtig. Er hatte sich genauso verhalten, wie er es mich lehrte: Er hatte mir nicht nur zu verstehen gegeben, dass er meine Vergangenheit kannte, sondern mich gleich der Versuchung, der Gefahr ausgesetzt, hatte es mir überlassen, ob ich etwas riskieren würde, ob ich mich herauswinden, bereuen, Verachtung zeigen oder triumphieren würde. Was davon ich zeigen würde, hing von mir ab. Dem Rōshi wäre es am liebsten gewesen, wenn ich gar nichts gezeigt hätte. Fast wäre mir das auch gelungen. Zumindest hatte ich auf sein Lob nichts entgegnet. Ich stand wieder ganz am Anfang. Ich war im wahrsten Sinne des Wortes – ein Schüler. Ich hatte geglaubt, das größte Geheimnis seit Bestehen dieses Klosters zu hüten, und war ertappt worden wie ein Kind beim Stehlen. Es gibt also jemanden, der über allem und jedem steht und mein Dunkel beherrscht, aber nicht steuert. Dieser Jemand ist da, um mich sanft zum Wasser zu führen, wo es am seichtesten ist.
Es war gut, dass ich mich nicht hilflos fühlte. Ich hatte festen Boden unter mir, und der hieß Sicherheit oder Überzeugung oder Kies. Das war bis vor kurzem anders gewesen – als ich mir noch zu viele Fragen, unmögliche Forderungen und Fallen stellte.
Welche Veränderungen musste ich durchgemacht haben, wenn mich der arme Meno nicht erkannte? Vielleicht hätte er mich ja auch erkannt, wenn er mich nur genauer betrachtet hätte. Doch warum hätte er das tun sollen? Tote betrachtet man nicht. Oder besser: Nach Toten sucht man nicht.
Meno war der Grund, wieder an eine Frau zu denken. Er hatte mich an die Geburt, die Liebe erinnert. Nicht jedoch, wenn ich es mir genauer überlegte, an jene schmerzlichen Ereignisse, die mich zur Flucht gezwungen, dann aber vor dem Grauen bewahrt hatten. War es möglich, dass ich, obwohl man mich an die jüngste Vergangenheit erinnert hatte, auf dem Weg dazu war, sie nicht als Widersacher und Feind zu sehen? Wenn es mir gelungen war, mich über einen Gegner wie diesen zu erheben, und das sogar ohne Absicht, würde ich mit Gleichmut auf den kommenden Tag warten und ihn, wenn nötig, auch bezwingen können. Sein Kommen war unvermeidlich, doch ich trat nicht voller Angst den Rückzug vor ihm an. Früher hätte ich das einen Sieg genannt!
Der Hinweis des Lehrers, Nachdenken erschwere den Weg zur Erleuchtung, war ständig in meinem Hinterkopf präsent. In dieser Sache fühlte ich mich unsicher. Ich hatte noch einen langen Weg vor mir, um mich von der lähmenden Vergangenheit zu lösen. Ich glaube, der Rōshi sah mir meine Langsamkeit nach. Er wusste, dass die Last der Irrtümer, die ich mit mir herumschleppte, um ein Vielfaches schwerer wog als das Päckchen, das andere Schüler zu tragen hatten. Obwohl auch ich nicht mehr das Bedürfnis hatte, viel zu reden, wollte ich den Meister an meinen großen, stillen Empfindungen teilhaben lassen. Den Rōshi zu fragen, was Erleuchtung sei, war das Letzte, was ein Schüler tun durfte. Zur Antwort hätte ich ein »Mu!« oder einen Schlag auf den Kopf oder irgendeine unverständliche Erklärung bekommen, die mich nur noch mehr verwirrt und abgelenkt hätte. Reaktionen wie diese dienten ja auch dazu, die allzu Neugierigen eindringlich daran zu erinnern, dass man die Buddhaschaft nicht durch Fragen erlangt. Doch ich wollte das Risiko eingehen. Ich erwartete nicht, das Geheimnis dieses erhabenen Zustands zu ergründen, und auch nicht, augenblicklich den Sinn meines Lebens zu verstehen. Ich wollte die Meinung des Rōshi über das hören, was ein Gesprächspartner wie ich nicht von sich aus verstehen kann, weil er das, was man ihm sagen wird, nicht erlebt hat. Weder konnte ich wissen, was der Meister mir sagen würde, noch war ich mir sicher, ob er mein Bedürfnis verstehen würde, ihn anzuhören. Auch wenn er gar nichts zu mir sagen sollte, würde mir das nichts ausmachen, wenn er nur Verständnis für mich aufbrächte.
Dann überlegte ich es mir aber doch anders. Hatte mir der Meister nicht schon genug Vertrauen entgegengebracht? Hatte er nicht schon mehr als genug bei unserer letzten Begegnung gesagt? Ausgerechnet jetzt, wo ich gemerkt habe, dass ich mich allmählich der neuen Ordnung anpasse, soll ich mich dem Unbekannten