Mord im Hause des Herrn. Franziska Steinhauer
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Doch dann, als er gerade zu hoffen begann, er könne wieder in einen relativ normalen Alltag zurückfinden, folgte ein weiterer Schicksalsschlag: Er wurde krank. Multiple Sklerose.
Vor einem Schaufenster blitzte sein Spiegelbild auf. Eigentlich sah er für einen Kriminalhauptkommissar zu harmlos aus, dachte er, und wusste nicht, ob er sich darüber freuen sollte oder nicht. Sven Lundquist fuhr sich mit den Fingern durch sein dichtes dunkles Haar und forschte nach Anzeichen des nahenden Alters. Du bist hoffnungslos eitel, schalt er sich sanft. Ein bisschen schlanker war er geworden, nahm er erstaunt zur Kenntnis, denn viel Zeit für Sport blieb ihm nicht. Er dachte ein wenig neidisch an Lars’ athletischen Körperbau, Ergebnis eines harten und konsequenten Trainings. Nichts für ihn, er verbrachte seine Freizeit lieber mit Lisa und Magda.
Sein Körper straffte sich. Er spürte, wie das Leben sich in ihm wieder breit machte, seinen Gang beflügelte und den Kopf endlich befreite. Ja, sagte er sich, er wollte wieder glücklich sein – und das gelang ihm am besten mit Magda.
Weihnachten wird ein Neuanfang werden, dachte er voller Zuversicht.
Als er eine halbe Stunde später mit seinem Freund und Kollegen Lars Knyst in einem Café zusammentraf und sie sich gegenseitig Geschenkvorschläge für ihre Lieben machten, war die Welt für Sven Lundquist fast völlig in Ordnung.
Doch Mörder nehmen in der Regel weder Rücksicht auf Wochenenden oder Feiertage. Und zu diesem Zeitpunkt wusste außer den unmittelbar Beteiligten niemand von dem langsam erstarrenden Körper, der Lundquist und seinem Team in Kürze viele Rätsel aufgeben würde.
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In der Kirche war es kalt. Hanne zitterte. Hoffentlich hatte dieser schusselige Pfarrer nicht wieder eines der Fenster offen gelassen. Gerade in der heutigen Zeit war das gefährlich und Hanne Steenkluth wurde nicht müde, ihn immer wieder darauf hinzuweisen, wie leichtsinnig sein Verhalten war. Dabei war er doch noch gar nicht alt genug, um so zerstreut zu sein.
Verärgert zog sie den Trolley zum Altar.
Mit routinierten Bewegungen legte sie Handschuhe, Mütze und Schal ab und schlug die Plane der Einkaufstasche zurück. Nacheinander holte sie einen Staubwedel nebst diversen bunten Tüchern sowie einen winzigen Eimer und ein Fläschchen selbst gemischter Möbelpolitur heraus.
Neulich hatte sich dieser vergessliche Pfarrer doch tatsächlich angemaßt zu behaupten, der Gestank ihrer Politur überdecke selbst den Geruch des Weihrauchs und werde von den Betenden bei der Andacht als störend empfunden.
Als ob der Duft von Sauberkeit einen bei der Zwiesprache mit Gott irritieren konnte! Blödsinn.
»Männer!«, spie sie aus und fegte mit einer lässigen Handbewegung alle Angehörigen dieses Geschlechts in den Orkus. Nur gut, dass sie keinen dieser ewig unzufriedenen Nörgler mehr zu versorgen hatte, nachdem ihr Josef vor nun schon mehr als vierzig Jahren an einer Lungenentzündung gestorben war. Als ihr Sohn endlich auszog, hatte sie sich geschworen, keinen Mann mehr in ihrem Leben zu dulden. Missbilligend schüttelte sie den Kopf und schlurfte mit dem Eimer in die Sakristei, um dort Wasser zu holen und nach den Fenstern zu sehen.
Das Gefühl nicht allein in der Kirche zu sein, beschlich sie erst später.
Und dann begann sie zu schreien, als wolle sie niemals mehr damit aufhören
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»Ah – die beiden Ermittler!«, begrüßte sie Ortspolizist Einar Dahl und drückte ihnen kraftvoll die Hände.
Der wohlgenährte Mann in den besten Jahren schwitzte stark und versuchte gar nicht erst seine Erleichterung darüber zu verbergen, diesen seltsamen Fall in die Verantwortung anderer abgeben zu können.
Nach einem Blick in das Innere der Kirche konnte Sven Lundquist den Kollegen gut verstehen.
Das innen und außen weiß getünchte Gotteshaus, zu dem man sie gerufen hatte, war eine imposante Wehrkirche. Sie glich mehr einer Ritterburg als einer Stätte der inneren Einkehr. Der überdimensionierte viereckige Turm, dessen schmale Fensteröffnungen unwillkürlich die Assoziation von Schießscharten aufdrängten, war mit eindrucksvollen Zinnen bewehrt.
Das Kirchengebäude selbst war einfach und glich einer geräumigen Scheune. Das Gestühl teilte den schlichten und funktionellen Innenraum in einen Mittelgang und zwei Seitengänge, die von einzelnen Säulen in behagliche Nischen unterteilt wurden. Auf dem schmucklosen Altar aus hellem Holz standen nur ein schlichtes Kreuz und zwei Leuchter. Im Hintergrund hing ein kleines Kreuz aus tiefrotem Glas, das von innen heraus leuchtete, wenn der Pfarrer die Messe las. Links vom Altar erkannte Lundquist zwei Votivschiffe von beeindruckender Größe, die zu beiden Seiten von Gemälden flankiert wurden, deren Motive im Halbdunkel nur zu erahnen waren.
Die beschaulich-friedliche Atmosphäre des Gotteshauses war zweifellos empfindlich gestört. Auf einer der steinernen Stufen, die zum Altar führten, kauerte eine kräftige, weißhaarige Frau, die unentwegt laut schniefend »Oh Gott, oh Gott, oh Gott!« murmelte. Eine deutlich jüngere Frau mit mütterlicher Statur hockte daneben und versuchte die alte Dame zu beruhigen, strich ihr immer wieder sanft über die Schultern und redete leise auf sie ein.
Allerdings schienen ihre Bemühungen erfolglos zu bleiben.
Ein gutes Stück von ihnen entfernt entdeckte Lundquist eine kleine Menschenansammlung. Als er auf gleicher Höhe mit ihnen war, sah er auch das Opfer, um das sich der Arzt und der Pfarrer bemühten.
»Tja, das ist schon gewaltiges Pech, nicht wahr?«, flüsterte Einar Dahl.
Lundquist nickte.
In der Bank hatte ein wohlgenährter Herr in grauem Anzug gesessen. Ob sich nun sein auf den Boden gerichtetes Gesicht, von dem nur ein rotblonder Haarschopf zu sehen war, bereits vorher in Demut und Frömmigkeit zum Gebet gesenkt oder in Erschütterung über eigene sündige Schwächen und Laster gramgebeugt Deckung gesucht hatte, würde für immer ungeklärt bleiben müssen. Viel wahrscheinlicher aber war, dass der Mann aufrecht in der Bank saß, als ihn das schwere, riesige Glaskreuz gefällt hatte.
»Vom Kreuz erschlagen!«, flüsterte der Pfarrer fassungslos. »Vom Kreuz erschlagen!«
»Der Mann ist jedenfalls tot. Schon länger. Da war nichts mehr zu machen«, erklärte Dr. Stevensson.
Lundquist trat näher an den Toten heran.
»Kennt jemand den Mann?«
Einar Dahl schüttelte den Kopf.
»Nein, weder Pfarrer Landulf noch seine Haushälterin. Und ich auch nicht. Die Hanne haben wir lieber nicht so nah rangelassen, die ist ja auch schon so völlig durch den Wind.«
Lundquist streifte sich Latexhandschuhe über und begann behutsam die Taschen zu durchsuchen.
»Alle leer. Er hat nicht einmal ein Papiertaschentuch dabei. Und trotz der Kälte war er wohl ohne Mantel unterwegs«, stellte er fest und sah sich suchend um.
»Wir sind alle Reihen abgegangen – da war nichts«, versicherte Einar Dahl. Plötzlich traten rote Flecken auf seinem Hals hervor, die sich hektisch verbreiteten und auch sein Gesicht erreichten. Lars Knyst sah rasch zu der Zweiergruppe am Altar rüber, um ihn nicht anstarren zu müssen. Bisher hatte er immer geglaubt, dass diese nervöse Reaktion Frauen vorbehalten war.