Greifen und BeGreifen. Sally Goddard Blythe
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Solch eine undifferenzierte Vorgehensweise beim Schulstart kann sich auf wenigstens zwei Gruppen sehr ungünstig auswirken: auf jene Kinder, deren Geburtstag in den Sommer fällt und die damit neun bis zwölf Monate jünger sind als ihre Klassenkameraden, und auf jene Kinder, die in bestimmten Aspekten ihrer Entwicklung in Bezug auf die automatische Kontrolle von Gleichgewicht und Koordination verzögert sind und deshalb Schwierigkeiten bei der Fokussierung und Aufrechterhaltung ihrer Aufmerksamkeit haben. Die erste Gruppe könnte ganz einfach von einer Verschiebung des Schuleintritts um einige Monate profitieren, so dass diese Kinder dann als ältere Kinder in die nächste Einschulungsklasse aufgenommen werden. Jene, die bestimmte Entwicklungsmeilensteine noch nicht erreicht haben, würden von einer verlängerten vorschulischen Phase mit einem mehr informellen Curriculum profitieren, das bevorzugt jene Aktivitäten in den Vordergrund stellt, die ihre physische und sensorische Entwicklung fördern.
In der früheren Tschechoslowakei wurden zwei einfache Tests zur Feststellung der Schulreife angewandt: Kann das Kind einen Kreis sowohl im wie gegen den Uhrzeigersinn zeichnen? (Diese grundlegende Bewegung ist beim Schreiben von Buchstaben von Bedeutung.) Kann das Kind mit der Hand das jeweils gegenüberliegende Ohr berühren? (Dies zeigt, ob das Kind die Körpermittellinie überqueren kann – eine für das Lesen notwendige Fähigkeit.)
Unabhängige Forschungen haben ähnliche Zusammenhänge zwischen automatischer Kontrolle des Gleichgewichts und späteren Lernschwierigkeiten ergeben. Eine Reihe von Tests wie der Wobble Test (Nicolson und Fawcett 1994) und der „Einbeinstand“ (Schrager 2001) sind in umfassendere Testbatterien einbezogen worden, um diejenigen Kinder zu identifizieren, die Gefahr laufen Legasthenie oder andere spezifische Lernschwierigkeiten zu entwickeln (oder sie bereits haben).
Während derartige Tests uns Hinweise darüber geben, was verkehrt ist, sagen sie uns nichts darüber, warum das eine Kind die Kontrolle über sein Gleichgewicht und seine Koordination gewonnen hat, das andere aber nicht.
Es ist Absicht dieses Buches nicht nur Antworten auf die Frage nach dem Warum zu geben, sondern auch Wege aufzuzeigen, wie das gefährdete Kind identifiziert werden kann und wie die Hindernisse überwunden werden können, die das Kind daran hindern, in der Schule und im späteren Leben erfolgreich zu sein. (Fachbegriffe werden im Anhang erläutert.)
Kapitel 1
Reflexe und ihre Auswirkungen auf Erfolg oder Versagen in der Erziehung
Wenn ein Kind geboren wird, verlässt es das weiche, schützende Polster der Gebärmutter, um in eine Welt zu kommen, in der es von einer fast überwältigenden Masse an Sinnesreizen bestürmt wird. Es kann diese Gefühlsreize, die es umschließen, nicht interpretieren. Sind sie zu stark oder zu plötzlich, wird es auf sie reagieren, aber es ist nicht in der Lage, die eigene Reaktion zu verstehen. Es hat eine Welt des Gleichgewichts gegen eine Welt des Chaos eingetauscht; es hat die Wärme verlassen und findet Hitze und Kälte vor. Das Neugeborene wird nicht mehr automatisch mit Nahrung versorgt; es muss anfangen, bei der eigenen Nahrungsversorgung mitzuwirken. Es erhält auch nicht länger Sauerstoff aus dem Blut der Mutter, also muss es jetzt selbst atmen. Es muss beginnen, die Erfüllung seiner eigenen Bedürfnisse zu suchen und zu finden.
Um zu überleben, ist es mit einer Anzahl frühkindlicher Reflexe ausgestattet, die die unmittelbare Reaktion auf diese neue Umgebung und die sich verändernden Bedürfnisse sicherstellen sollen. Frühkindliche Reflexe sind automatische, stereotype Bewegungen, die vom Gehirnstamm gelenkt und ohne Beteiligung des Kortex ausgeführt werden.
Bewusstsein ist nur möglich, wenn der Kortex am Geschehen beteiligt ist.
Die Reflexe sind grundlegend für das Überleben des Babys in den ersten Lebenswochen und bilden ein rudimentäres Training für viele spätere willensgesteuerte Fertigkeiten. Allerdings sollten die frühkindlichen Reflexe nur eine begrenzte Lebensdauer haben; sobald sie ihre Aufgabe erfüllt haben und dem Baby geholfen haben, die ersten riskanten Lebensmonate zu überleben, sollten sie durch höhere Zentren des Gehirns gehemmt oder kontrolliert werden. Ausdruck dafür ist die Entwicklung höher entwickelter Nervenstrukturen, die dem Kleinkind dann die Kontrolle über willentliche Reaktionen ermöglichen.
Bleiben diese frühkindlichen Reflexe jedoch nach dem sechsten bis zwölften Lebensmonat aktiv, so werden sie als abweichend eingestuft; das Vorhandensein der Reflexe weist dann auf eine strukturelle Schwäche oder Unterentwicklung innerhalb des zentralen Nervensystems (ZNS) hin. Eine anhaltende Aktivität der frühkindlichen Reflexe kann ebenfalls die Entwicklung der nachfolgenden Halte- und Stellreflexe verhindern, die jetzt auftreten sollten, um dem sich entwickelnden Kind die erfolgreiche Interaktion mit seiner Umwelt zu ermöglichen. Frühkindliche Reflexe, die über das Lebensalter von sechs Monaten hinaus noch aktiv sind, können das Beibehalten unreifer Verhaltensmuster verursachen; es ist auch möglich, dass trotz des Erwerbs späterer Fertigkeiten unreife Systeme vorherrschend bleiben. Ein Elternteil beschrieb sein Kind so: „Da ist immer noch ein Kleinkind im Körper eines zehnjährigen Kindes aktiv.“
Je nachdem wie stark die Reflexaktivität von der normalen Entwicklung abweicht, kann diese schlechte Organisation der Nervenzellen eine oder alle Funktionsgebiete betreffen; nicht nur die grob- oder feinmotorische Koordination, sondern auch sensorische Wahrnehmung, Kognition und Ausdrucksvermögen.
Wahrnehmung ist das Registrieren sensorischer Information im Gehirn.
Kognition ist die Interpretation und das Verstehen dieser Information.
Die „Grundausstattung“, die für das Lernen unerlässlich ist, wird trotz adäquater intellektueller Fertigkeiten fehlerhaft oder ineffizient sein. Es ist, als ob spätere Fertigkeiten an eine frühere Entwicklungsstufe gebunden bleiben und, anstatt automatisiert zu werden, nur durch kontinuierliche bewusste Anstrengung ausgeführt werden können.
Die frühkindlichen Reflexe erscheinen bereits im Mutterleib, sind bei der Geburt vorhanden und sollten mit ungefähr 6 Monaten, spätestens aber im Alter von 12 Monaten gehemmt werden.
Die Hemmung eines Reflexes steht oft mit dem Erwerb einer neuen Fertigkeit in Beziehung; das Wissen über die Reflexchronologie und die normale kindliche Entwicklung sollte also kombiniert werden, damit vorausgesagt werden kann, welche spätere Fertigkeit vielleicht als direkte Folge eines beibehaltenen frühkindlichen Reflexes beeinträchtigt worden ist. So wie der oben zitierte Elternteil von dem Kleinkind berichtete, das noch immer im Körper des Schulkindes aktiv ist, können wir sagen, dass die abweichenden Reflexe uns Aufschlüsse über die Faktoren geben können, die spätere Fertigkeiten aktiv behindern.
Hemmung ist die Unterdrückung einer Funktion durch die Entwicklung einer anderen Funktion. Die erste Funktion wird in die zweite integriert.
Enthemmung tritt in der Folge von Traumata auf; auch im Verlauf der Alzheimerschen Krankheit, bei der Reflexe in umgekehrter chronologischer Reihenfolge auftauchen.
Ein Aufdecken abweichender frühkindlicher Reflexe kann so dazu beitragen, die Ursachen für das Problem eines Kindes derart zu isolieren, dass zusätzliche Förderung effektiver und zielgerichtet eingesetzt werden kann. Ist das Reflexprofil nur leicht abweichend, sind Unterrichtsstrategien allein normalerweise ausreichend. Kinder, die nur einen mäßigen Grad an Reflexanomalie zeigen, werden vielleicht von einer Kombination von speziellem Unterricht und Bewegungstraining, ausgerichtet auf Förderung von Gleichgewicht und Koordination, profitieren. Falls allerdings eine Häufung abweichender Reflexe vorliegt, sprechen wir von der Existenz einer neurophysiologischen