Greifen und BeGreifen. Sally Goddard Blythe

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Greifen und BeGreifen - Sally Goddard Blythe

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der Geburt eine aktive Rolle. Während der Zeit im Mutterleib sollte er Bewegungen bahnen (Mütter spüren dann Stöße oder Tritte), den Muskeltonus entwickeln und vestibuläre Stimulation bieten.

      Im Mutterleib hilft der Asymmetrische Tonische Nackenreflex Bewegungen zu unterstützen, wodurch das Gleichgewichtssystem und die vermehrte Bildung neuraler Verbindungen angeregt werden.

      Zu dem Zeitpunkt, zu dem der Fötus bereit für die Geburt ist, sollte der Reflex vollständig entwickelt sein, so dass er seine Rolle beim Geburtsprozess einnehmen kann. Die Wehen sollten erst einsetzen, wenn der Fötus ausgereift ist, denn dann können sich Mutter und Baby als Partner gemeinsam durch den Geburtsvorgang arbeiten. Wenn das zweite Stadium der Wehen erreicht ist, sollte das Baby mithelfen sich im Rhythmus der Wehen der Mutter durch den Geburtskanal nach unten zu arbeiten. Man geht davon aus, dass der ATNR zusammen mit dem Halsstellreflex auf den Körper und zusammen mit dem Spinalen Galantreflex den Schultern und Hüften des Kindes im Geburtsprozess die notwendige Flexibilität und Beweglichkeit verleiht. Die aktive Teilnahme des Kindes dabei hängt vom Vorhandensein eines vollständig entwickelten ATNR ab. Der Geburtsprozess wiederum verstärkt den Asymmetrischen Tonischen Nackenreflex (und weitere Reflexe), so dass sie für die ersten Lebensmonate fest etabliert und aktiv sind.

      Der Asymmetrische Tonische Nackenreflex stellt nicht nur eine Hilfe beim Geburtsvorgang dar, sondern wird durch diesen auch verstärkt. Das mag ein Grund dafür sein, dass für Kinder, die durch einen Kaiserschnitt auf die Welt gebracht werden, ein größeres Risiko für Entwicklungsverzögerungen besteht. Während der Neugeborenenphase sichert der Asymmetrische Tonische Nackenreflex, dass die Luftröhre frei zum Atmen ist, wenn das Kind auf dem Bauch liegt. Er verstärkt den Streckmuskeltonus, wobei er jeweils eine Seite des Körpers trainiert und so die Grundlage für spätere gezielte Greif- und Streckbewegungen bildet.

      Es ist mehr als wahrscheinlich, dass bestimmte Reflexe für das Überleben in den ersten Lebensmonaten von entscheidender Bedeutung sind und dass ein zu schwach entwickelter Moro-Reflex und Asymmetrischer Tonischer Nackenreflex am plötzlichen Kindstod beteiligt sind – der Moro-Reflex, weil er einen sofortigen Aktivierungsmechanismus bereitstellen sollte, und der ATNR, weil er sicherstellen soll, dass das Baby in Bauchlage den Kopf zur Seite zu drehen kann. (Goddard 1989, 1990, 1991)

      DeMyer (1980) beschreibt den Reflex so:

      „… die erste Augen-Hand-Koordination, die stattfindet. Sie ist zu dem Zeitpunkt, an dem die visuelle Fixierung naher Gegenstände sich entwickelt, vorhanden, und es scheint, als ob das Nervensystem dafür sorgt, dass der richtige Arm in Richtung auf den angepeilten Gegenstand ausgestreckt wird. Indem die Hand den Gegenstand berührt, werden die Grundlagen des Bewusstseins für die Entfernung (Armeslänge) sowie der Koordination von Augen und Händen gelegt.“ (zitiert nach Holt, 1991)

      Mit ungefähr sechs Monaten sollte der Asymmetrische Tonische Nackenreflex seine Aufgabe erfüllt haben; das sich entwickelnde Gehirn sollte jetzt weitere Bewegungsmuster ermöglichen, die auch die Hemmung dieses Reflexes enthalten und dazu beitragen, dass das Kind komplexere Fertigkeiten entwickelt. Das Fortbestehen des Reflexes würde zahlreiche Funktionen beeinträchtigen. Es ist zum Beispiel unmöglich, in einer fließenden Kreuzmusterbewegung auf dem Bauch zu kriechen, wenn der Asymmetrische Tonische Nackenreflex fortbesteht. Kriechen und Krabbeln sind wichtig für die weitere Entwicklung der Koordination von Händen und Augen sowie für die Integration vestibulärer Information mit anderen Sinneswahrnehmungen. Die Myelinisation des Zentralen Nervensystems (ZNS) wird als Folge von Bewegungserfahrungen verstärkt.

      Ein Kind, das den Asymmetrischen Tonischen Nackenreflex noch besitzt, wenn es laufen lernt, wird unter Umständen Gleichgewichtsschwierigkeiten haben. Eine Bewegung des Kopfes nach rechts oder links wird eine Streckung der Gliedmaßen auf der jeweiligen Körperseite zur Folge haben und so das Gleichgewichtszentrum durcheinander bringen und homolaterale Bewegungen bewirken.

      Wenn das Kind läuft und die linke Hand nach vorn schwingt, während der linke Fuß sich nach vorn bewegt und ebenso die rechte Hand gleichzeitig mit dem rechten Fuß bewegt, wird das Ergebnis ein roboterhafter Gang sein. Dieser Gang wird andere Kinder bemerken lassen, dass hier etwas anders ist, und das Kind wird leicht zum Ziel für Hänseleien. Beim Sport werden Übungen, wie das Werfen oder Kicken eines Balls, schwerfällig und unbeholfen erscheinen.

      Der fortbestehende Reflex wird zu Schwierigkeiten dabei führen, die Mittellinie des Körpers von einer Seite auf die andere zu überkreuzen, so dass dem Kind der Übergang vom einfachen Greifen eines Gegenstandes zur Handhabung mit beiden Händen nicht gelingt. Auch ist es möglich, dass sich keine Präferenz für eine Hand, ein Bein oder ein Ohr etabliert; wenn es keine dominante Seite gibt, wird immer ein gewisses Moment des Zögerns in den Bewegungen des Kindes zurückbleiben. Gazzaniga (1973) vertrat die Auffassung, dass die Unilateralität von Hirnfunktionen wichtig sei, um eine zentrale Organisationsstelle im Gehirn für die Verarbeitung hereinkommender Informationen zu haben. Ein Kind, das keine eindeutige Seitigkeit entwickelt hat, kann sich zum Beispiel nicht entscheiden, mit welcher Hand es einen Hammer, einen Bleistift oder einen Ball aufnehmen soll. Da diese Wahl nicht automatisiert wird, muss jede Bewegung bewusst gemacht werden. Dieses wird sich zu einer unnötigen Stressursache entwickeln.

      Eine nicht durchgehende Dominanz kann sich so auswirken, dass Informationen nicht zu der Hirnregion weitergeleitet werden, die für die Ausführung einer Tätigkeit die leistungsfähigste ist. So kann ein Konflikt, eine Konkurrenz zwischen zwei Zentren entstehen – als ob auf dem Fahrersitz eines Autos zwei Menschen sitzen, die beide das Auto steuern und Gas geben wollen.

      Ein sechs Monate altes Baby, das nach wie vor über diesen Reflex verfügt, wird Schwierigkeiten beim Übergang zu der Fertigkeit haben, einen Gegenstand von einer Hand in die andere zu befördern, wenn es dabei den Kopf dreht. Diese Fertigkeit wird normalerweise mit ungefähr 28 Wochen erworben. Der Asymmetrische Tonische Nackenreflex entwickelt sich hier zu einer unsichtbaren Barriere, die es daran hindert, die Mittellinie des Körpers zu überkreuzen. Der ganze Körper wird Tätigkeiten nach wie vor so ausführen wollen, dass jeweils nur eine Körperhälfte gebraucht wird, wodurch ein fließender Wechsel beidseitiger Bewegung beeinträchtigt wird.

      Auch die Bewegung der Augen wird betroffen sein, da das Kind im Bereich der Mittellinie stimulusgebunden bleibt. Fordert man ein solches Kind auf, einem Gegenstand mit den Augen zu folgen, der auf einer waagerechten Linie langsam vor ihm herbewegt wird, wird es ein leichtes Zögern zeigen. Das gleiche Zögern wird später auch ein flüssiges Lesen verhindern.

      Erst in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres beginnt das Kind eine gute Weitsicht zu entwickeln, und ein beibehaltener Asymmetrischer Tonischer Nackenreflex kann die Entfernung für müheloses scharfes Sehen auf Armeslänge begrenzen und somit die nachfolgende visuelle Entwicklung beeinträchtigen. Die Fertigkeit, ein anvisiertes bewegliches Ziel mit den Augen zu verfolgen, wird ebenfalls beeinträchtigt, was später auch Auswirkungen auf das Lesen, Schreiben und Rechtschreiben haben wird.

      In der Schule zeigt sich dann, dass die Handschrift ein eindeutiges Opfer eines beibehaltenen Asymmetrischen Tonischen Nackenreflexes ist. Jedes Mal wenn das Kind den Kopf wendet, um auf die Heftseite zu schauen, auf der es gerade schreibt, wird sein Arm sich ausstrecken und die Hand sich öffnen wollen. So wird es einen enormen Aufwand bedeuten, wenn das Kind ein Schreibgerät über eine bestimmte Zeitdauer halten und benutzen will. Es ist, als wäre ein Gummiband mit dem einen Ende am Stift und mit dem anderen an der Ecke des Tisches befestigt. Das Kind kämpft permanent gegen eine unsichtbare Kraft. Mit der Zeit mag es lernen, dieses dadurch zu kompensieren, dass es einen unreifen Bleistiftgriff benutzt und übermäßigen Druck auf das Schreibgerät ausübt. Der physische Akt des Schreibens wird jedoch immer starke Konzentration erfordern, die auf Kosten der kognitiven Verarbeitung geht. Sowohl die Qualität als auch die Quantität sind davon betroffen. Die Handschrift wird vielleicht auf ein und derselben Heftseite in verschiedene Richtungen geneigt sein. Eventuell dreht das Kind das Heft bis zu neunzig Grad beim Versuch,

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