Vor der Flut. Corinna T. Sievers

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Vor der Flut - Corinna T. Sievers

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Arm gestreckt, wenn ich Daumen und Zeigefinger spreize, entspricht die Spanne der Höhe des Eisberges. Helles Türkis, jetzt, da es aufklart.

      In einer halben Stunde wird die Flut den Scheitelpunkt erreichen.

      Ich warte, Brustwarzen steif, die Wanduhr schlägt zwölf, noch einmal strecke ich den Arm aus. Um die Breite einer Fingerkuppe ragt der Eisberg über die Spitze meines Zeigefingers hinaus.

      Samstagmorgen

      Graugelb. Zuerst trifft im Großhirn das Licht ein, Sekundenbruchteile später der Ton. Irgendein Nachbar schaufelt Schnee.

      Erster bewusster Gedanke: Erik. Ich habe von ihm geträumt, noch kurz vor dem Aufwachen. Träume generiert das Stammhirn, ebenso wie Triebe. Dieser Trieb ist haltlos. Bei aller Unvollkommenheit des Liebesobjektes: Der Erik aus meinem Stammhirn verspricht Seligkeit, allein durch Visualisierung seines Geschlechtsteils.

      Im Anfangsstadium der Begierde reicht das an Vollkommenheit: die Vorstellung des erigierten Organs. Körpereigene Endorphinproduzenten lösen Glückseligkeit aus wie einen Rausch.

      Aber der Blutspiegel will gehalten werden, und die Unruhe kehrt zurück. Sie weicht einer Getriebenheit, der die Visualisierung des Gliedes nicht mehr genügt. Nur eine Inbesitznahme vermag sie zu befrieden.

      Unter der wünschenswerten Voraussetzung, dass der Liebeswunsch vom Objekt erkannt und geteilt wird, folgen Maßnahmen, die dem Zweck des Beisammenseins dienen, normalerweise ein Abendessen in einer Fischbude respektive beim Sternekoch, Mittelmaß ist auf der Insel nicht anzutreffen, am selben Abend Küsse, gelegentliches Herzeigen der Möse und Schwanzstreicheln. Im Normalfall von nun an eine Umkehr ausgeschlossen.

      Neben dem Glück stellt der hormonelle Niederschlag etwas Zweites, ebenso Mächtiges zur Verfügung: die Verblendung. Sie überzieht das Liebesobjekt mit Wohlwollen und stattet es mit wirklichkeitsfremder Anziehungskraft aus.

      Sie nehmen an, dass die darauf folgende geschlechtliche Vereinigung eine Katharsis darstellen müsse.

      Nicht für jeden. Nicht für mich.

      Ich antworte Ihnen: Was ist mehr als Geschlechtsverkehr? Vielfacher Geschlechtsverkehr.

      Mein Körper hat drei Löcher, die ich mit einer größtmöglichen Zahl an Schwänzen stopfe, nach Möglichkeit kein zweites Mal mit demselben.

      Am wenigsten mit Hovards. Mit jedem anderen, nur nicht mit seinem.

      Erik dürfte mein fünfhundertster Liebhaber werden. Einzig das zukünftige Glück zählt.

      Hovards Diagnose: Ich löse nichtsexuelle Konflikte durch Sexualität.

      Tosend meine Seligkeitsgedanken, tosend die dürren Zweige der Pappeln vor meinem Fenster, da verdrängt ein anderes Geräusch mein Erik-Glück: draußen Männerschritte in wilder Folge. Ich lausche ihren Füßen, acht oder zehn, sie haben schwer zu tragen.

      Im weißen Hemd barfuß über den Flur in die Stube. Es zieht, im Kamin liegt kalte Asche. Sonst facht Hovard am Morgen das Feuer an, überhaupt vermelden meine Sinne: Er ist nicht da (das Phänomen der spürbaren Abwesenheit des Gatten im Moment des Betretens der gemeinsamen Wohnung oder des Hauses ist allen Verheirateten bekannt, als käme auch das Unbelebte zur Ruhe, in meinem Fall gefolgt von Erleichterung).

      Die Männer stehen im Garten. Sie haben eine Kette gebildet, werfen sich mit baumstarken Armen Sandsäcke zu, der letzte stapelt sie auf, errichtet gegen die Flut eine Mauer an der Ostseite des Grundstücks. Dort steht auch Hovard, zu schwach als Mann und Kettenglied, die Stiefel knöcheltief im Wasser. Er dirigiert, wenngleich sein Orchester ihn nicht beachtet. Die Kameraden tragen Blau, neongrün auf ihren Rücken: Seenot. Vor lauter Gischt ist der Himmel eins mit dem Meer.

      Ich wollte, der Augenblick dauerte an, so schön sind die arbeitenden Mannsbilder.

      Ich hebe den Arm, spreize Daumen und Zeigefinger: Der Eisberg, obschon im Schaum kaum auszumachen, überragt die Spanne um eine halbe Daumenlänge.

      Ich habe versäumt, das Hemd zuzuknöpfen, stehe mit gestrecktem Arm und halbnackt am Fenster.

      Bald befinden sich Sonne, Mond und Erde in Opposition. Das ist die Springflut.

      Die Männer haben fertig geschleppt und gestapelt, sich umgewandt, ihre Münder stehen offen, sie starren in meine Richtung. Nur Hovard nicht, der lehnt an der Pforte, das Gesicht himmelwärts, mit einer Hand abgeschirmt, er beobachtet den Flug der Vögel. Wenn sie über Meer gehen, wird der Sturm abflauen, das ist seine Hoffnung.

      Da beginnen die Männer zu lachen, ich höre ihr Grölen durch die Scheibe, sie zeigen mit den Fingern. Vor Scham verlässt mich mein Trotz, ich bin doch noch schön. Ich senke den Kopf, da sitzen die Kaninchen: Es mögen zehn sein, aufgereiht und farblich sortiert auf meiner Schwelle, die Männer schlagen sich auf die Schenkel.

      Mich haben sie nicht gesehen.

      Mittags wollen wir einen Spaziergang machen. Hovard möchte an den Weststrand, dort ist es geschützt, mit dem Auto eine Viertelstunde. Wir fahren durch die Dörfer, das schönste heißt B., hier lebt Erik.

      An der Hauptstraße Boutiquen und Nobelrestaurants im Winterschlaf.

      Vorgeblich unscheinbar die Nebenstraßen, schmal und bucklig, münden in armierte Auffahrten, ringsherum Videoaugen. Wege geräumt, als hätte es niemals geschneit.

      Ich auf dem Beifahrersitz, meine Hand in Hovards Nacken. Eine der Berührungen, die wir uns gestatten. Sein feines Haar fließt über meine Hand, er wäscht es morgens und abends. An keinem Tag unseres gemeinsamen, ein Vierteljahrhundert andauernden Lebens war Hovard anders als nahezu geruchsfrei. Zudem ist meinerseits ein neurobiologisches Phänomen nicht auszuschließen: ein Schaltkreis von Geruch und Gefühl. Nicht nur, dass mich Männerduft erregt. Umgekehrt löst der Gedanke an das männliche Geschlechtsteil ein eingebildetes Geruchsempfinden aus, eine Geruchs-Fata-Morgana, als entzünde mein Verlangen mein Riechzentrum, als heiße ans Vögeln zu denken, es zu riechen.

      Der Gedanke an Hovards Geschlechtsteil riecht nach nichts.

      Alles andere als geruchsfrei bin ich nach meinen nächtlichen Streifzügen. Sosehr ich mich auch parfümiere, Haut und Haar dampfen, Zigaretten, Wein, Schweiß und Ejakulat.

      Häufigste Konstellation: Vom Vögeln nach Hause gekommen, mitternächtlich oder später, einen Schwanz gelutscht dreißig Minuten zuvor, zwergenhaft, riesenhaft, es entlädt sich der eine wie der andere, nicht selten über mein Gesicht. Notdürftig gewaschen, die Zeit hat gedrängt, mein Liebhaber wird zu Hause erwartet. Keine Ehefrau, die Hovards Geduld besäße.

      Er dann hinter der Tür im Pyjama, er wartet immer, bis ich heimkomme, zwecks Kontrolle oder aus Sorge oder beides. Begrüßt mich, Küsse auf den Mund, da geht ein Reißen durch ihn, ein Moment kürzester Drangsal, eine Entgleisung seiner Züge für den Bruchteil einer Sekunde, und ist vorüber. Er nimmt meine Hand, zieht mich an den Tisch, mich und meinen Geruch, eine Schleppe von Sperma und Schuld hinter mir her. Wir setzen uns über Eck, Hovard lässt nicht los. Auf meiner Hand ein Geflecht blauer Venen, denen fährt Hovards Zeigefinger nach. Endlich: Ob ich einen schönen Abend gehabt habe.

      Ich bejahe, und wahrheitsgemäß: Ein kleiner Spaziergang, und irgendwo eingekehrt.

      Sehe Hovard ins Gesicht, Kiefer, die arbeiten, wie sie nur arbeiten auf der Suche nach einer

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