3 a.m.. Edie Calie

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3 a.m. - Edie Calie

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ins Bild und erregte Aufmerksamkeit. Die Tatsache, dass er sich nicht ausweisen konnte und auf die Frage nach seinen Personalien jedes Mal selbstbewusst behauptete, Jesus von Nazareth zu sein, weckte das Interesse der Behörden und von denen ‚ganz oben‘. Es war für sie zwar nicht der erste Kontakt mit einem offensichtlich Geisteskranken, der behauptete die Reinkarnation von Jesus Christus zu sein, doch dieser Mitte 30-Jährige war irgendwie anders. Vielleicht lag es daran, dass er keinerlei äußerliche Ähnlichkeit mit dem Jesus aufweisen konnte, der seit Jahrhunderten das Innere von Kirchen schmückte.

      Von der Statur her war er groß und breitschultrig, seine Haut dunkel, fast schwarz, sein krauses lockiges Haar stand wie elektrisiert von ihm ab und sein Gesicht ließ jegliches Anzeichen eines Bartes vermissen. Es handelte sich so offensichtlich nicht um Jesus, dass man ihm schon fast wieder Glauben hätte schenken können.

      Nicht nur in Jerusalem wandelten die Verrückten durch die Gegend. Mitten in der Nacht ließ jemand draußen auf der Straße alle lautstark an seinen Gedanken teilhaben.

      »Das Problem ist, dass sich niemand mehr fragt, wie es einem geht!«, brüllte er so laut er konnte, »Keiner weiß mehr, was im eigenen Kopf vor sich geht, alle sind nur noch gestresst. Menschen, wir werden irgendwann noch alle am Strick baumeln, wenn –«

      »Ruhe!«, schrie jemand aus dem Fenster.

      Obdachlose haben keine Zuhörer und so zog er sich wieder in seinen Pappkarton zurück.

      Der Strick von dem der Obdachlose geredet hatte existierte wirklich, allerdings am anderen Ende der Welt, in Japan.

      Wie genau dieser dürre Grufti-Teenager in diese Situation gekommen war, wusste er nicht. Gerade war er noch mit einer Flasche Sake in der Hand auf seinem Bett im Kinderzimmer gelegen und hatte Bands zugehört, die mit ihren Songs dieselbe Aussichtslosigkeit zum Ausdruck brachten, die er fühlte. Jetzt stand er mitten in einem Wald. The trees are closing in. Das Laub der Bäume verdeckte die hochstehende Sonne, was wesentlich zur seltsamen, unheimlichen Atmosphäre beitrug, für die es im Englischen den schönen Ausdruck ‚eerie‘ gibt.

      Die typischen Waldgeräusche fehlten, kein Vogelgezwitscher, kein Rascheln, kein Wind, der in den Blättern wie Meerrauschen klingt. Lediglich das Brechen der Äste unter seinen Schuhsohlen war zu hören. Ein gottverlassener Ort, an dem er dennoch nicht das Gefühl hatte, allein zu sein. Er kam sich beobachtet vor und die zahlreichen Seile, die in den Bäumen hingen, zeugten von Besuchern vor ihm. Fast wäre er über einen am Boden liegenden Schuh gestolpert, dem die Witterung bereits ordentlich zugesetzt hatte. Als er aufblickte, starrte er dem früheren Besitzer geradewegs ins Gesicht, von dem lediglich ein fleischloser Schädel übrig geblieben war. Aokigahara, Suicide Forest und die Frage, was war zuerst da: die Selbstmörder oder der Name? Baum oder Strick? Huhn, Ei, Schlachter? Vielleicht musste er zurück zum Anfangspunkt und vielleicht war er genau dort und das war es, was für Verwirrung sorgte. The trees are closing in, alles begann sich zu drehen.

      Vielleicht teilte er unwissend genau das gleiche Problem wie der Typ, der sich für Jesus hielt: Er besaß keine roten Socken und Menschen ohne rote Socken waren schon immer zum Scheitern verdammt.

      Sie atmete tief ein und begann sich langsam zu entspannen, obwohl die Metallbank auf der sie saß, nicht nach Erholung aussah. Die Maschine aus New York war 18,5 Minuten zuvor gelandet und nun traten die ersten Ankömmlinge durch die automatische Tür in den Ankunftsbereich: ein paar Business(wo)men in Anzug oder Kostüm, ein paar Touristen und viele Heimkehrer. Sie beobachtete, wie sich die Menschen um den Hals fielen und spürte, wie deren Stimmung auf sie überschwappte. Wo gibt es mehr Glück zu finden als in der Ankunftshalle eines Flughafens?

      Nach dem hemmungslosen Lachanfall, der sie nach dem One Night Stand überkommen hatte, konnte sie positive Gefühle und Normalität dringend gebrauchen. Offensichtlich steckte irgendetwas Dunkles, Animalisches in ihr, das heraus wollte und sie völlig verunsicherte. Dieser Ort war bislang immer der richtige für sie gewesen, um wieder aufzutanken. Fremde Menschen, die sie unwissend zurück in die Realität holten. Interaktion war nicht nötig. Sie saß anonym und unscheinbar auf der Bank, die sie zurück auf die Erde holte, weit weg von der geistigen Welt der Bücher, in der sie sonst lebte. Es genügte ihr, für ein paar Stunden einen Blick auf das triviale Leben der ‚normalen‘ Menschen zu erhaschen, das mit ihrem so gar nichts zu tun hatte. Doch sie fühlte sich weder überlegen noch erleuchtet, nur (wo)anders.

      Die Zeit kroch in der grell erleuchteten großen Halle vor sich hin, Leute kamen und gingen, ein paar enttäuschte Gesichter, weil niemand wartete, aber größtenteils herrschte Wiedersehensfreude. Sie ließ die Stimmung auf sich wirken und nach einiger Zeit fiel ihr eine ältere Dame auf der anderen Seite des Raumes auf, die ihre Anwesenheit zu bemerken schien.

      Reflexartig wandte sie den Blick ab, sie wollte verhindern, wahrgenommen zu werden. Bislang war ihr das auch immer ohne Probleme gelungen. Doch als sie nach einer Weile wieder in die Richtung der Alten blickte, sah sie, dass diese sie nach wie vor zu beobachten schien. Es war zu spät, das altbekannte ‚Wenn ich dich nicht sehe, siehst du mich auch nicht‘-Spiel funktionierte eben nur bei Kindern. Auf Grund der Entfernung konnte sie das Gesicht der Alten nicht erkennen, nur die altmodische Kleidung: ein langer, schwarzer, weiter Rock und eine langärmelige, dunkelviolette Bluse. Die weißen, langen Haare lugten unter einem breitkrempigen, schwarzen Hut hervor und sie konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass diese Frau bereits seit langer Zeit wartete, so untypisch war sie für diese Zeit gekleidet. Sie versuchte ihre Gedanken und Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken, schließlich war sie zur Beruhigung ihrer Nerven hierhergekommen. Doch so wirklich wollte es ihr nicht mehr gelingen, sie fühlte sich beobachtet.

      Die Situation wurde noch unangenehmer, als die Alte plötzlich verschwunden war. Obwohl ihre Vernunft ihr sagte, dass die Person, auf die die alte Frau gewartet hatte, wahrscheinlich eingetroffen war und sie die Halle verlassen hatte, rutschte sie unruhig auf der Bank hin und her. Sie fühlte immer noch ihre Präsenz. Ihr rutschte das sprichwörtliche Herz in die Hose, als sie sie plötzlich neben sich sitzend entdeckte. Wie der Jäger an seine Beute, hatte sie sich lautlos angeschlichen, vielleicht hatte auch sie das Animalische in ihr bemerkt. Doch die Fremde ignorierte sie und langsam beruhigte sich ihr Herzschlag wieder. Verstohlen betrachtete sie die Fremde von der Seite.

      Miss Le Fay Morgan schoss ihr der Name in den Kopf und entlockte ihr ein Lächeln. Tatsächlich erinnerte die Frau sie an die Romanfigur von Dion Fortune. Die äußerlichen Unterschiede waren zwar offensichtlich, aber so stellte sie sich die Aura und Ausstrahlung dieser fiktiven Person vor. Der Gedanke erheiterte sie kurzzeitig, bis ihr auffiel, dass auf einmal mehr Menschen auf sie aufmerksam wurden. Ein Mann regte sich darüber auf, dass er fast über ihre Füße gestolpert wäre, ein Security-Mitarbeiter schaute sie argwöhnisch an, ein Kind fragte sie nach ihrem Namen und ganz allgemein schien man sie auf einmal zu beachten, was ihr gar nicht recht war.

      Die angenehme Stimmung, die sie so in der Ankunftshalle schätzte, war dahin. Sie gehörte nicht dorthin und plötzlich schienen es alle zu wissen. Sie war der festen Überzeugung, dass die Alte irgendwas damit zu tun hatte, auch wenn diese bewegungslos neben ihr saß und Richtung Ausgang blickte. Schließlich fasste sie den Entschluss, nach Hause zu fahren. Der Ort war für diesen Tag zerstört und sie beschlich das Gefühl, dass er das für immer sein würde. Kurz bevor sie die Halle verließ, warf sie noch einen letzten, verstohlenen Blick auf die Fremde. Wie ein Geist saß sie noch immer bewegungslos da, trotz ihres auffallenden Äußeren schien niemand von ihr Notiz zu nehmen. Alea iacta est, die Veränderungen waren nicht mehr aufzuhalten.

      Es dauerte nicht lange, bis auch ich mich zu den Verrückten zählen lassen musste. Vielleicht

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