Drei Dekaden. Hermann Ritter

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Drei Dekaden - Hermann Ritter

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style="font-size:15px;">      Wenn wir heute Geschichten aus einer Epoche betrachten, in der weite Teile der Bevölkerung Analphabeten waren, dann bedenken wir dieses nicht. In unseren Köpfen ist Analphabetismus die Ausnahme, die Mangelerscheinung. Wir können alle lesen; Bücher und Zeitschriften sind Allgemeingut geworden. Doch wir dürfen nicht den Fehler machen, ähnliche Bilder auf unsere Vorfahren/Vorgänger anzuwenden. Schrift hatte früher einen wesentlich höheren Stellenwert und magische Symbole (wie Siegel etc.) hatten eine wesentlich umfassendere Bedeutung – und sei es nur, weil sie von einer schreibunkundigen Bevölkerung nicht zu reproduzieren waren.

      Ein anderer Begriff, der sich – wie der Begriff der Schrift – in den letzten Jahrhunderten in seiner Bedeutung stark verändert hat, ist der des Blutes. Während in mythischen Texten immer noch von Dingen wie Blutsverwandtschaft („Blut ist dicker als Wasser“), Blutschwur80 und Blutsbrüderschaft die Rede ist, so hat heute die Wahlverwandtschaft die Bedeutung der Blutlinie völlig verdrängt. Und statt der matrilinearen Vererbung (über die Mutter) wird heute der Name (und auch die Familie) patrilinear (über den Vater) vererbt.

      Seit der Verbreitung von AIDS ist auch unsere Hemmschwelle gegen Blutschwüre höher geworden – es ist nicht nur der ungeschützte Geschlechtsverkehr, der einen infizieren könnte, sondern auch der Austausch von Blut im Rahmen von Ritualen.

      Und letztendlich ist es auch die Kommerzialisierung des Blutes und der Blutspende durch die Vermarktung von Blutplasma, das diesen Begriff seiner mythologischen Bedeutung fast entbunden hat. Wer heute ein klassisches Ritual mit Blut oder Blutsbanden liest, wird es sicherlich völlig anders verstehen, als ein Heide/Magier aus dem 13. oder 16. Jahrhundert. Und unsere Hemmschwelle gegen den Einsatz von Blut, immerhin dem Saft des Lebens, in Ritualen ist deutlich angestiegen.

      Ein paar andere Begriffe möchte ich nur kurz anreißen. Die Bedeutung des Windes für unsere Kultur hat sich in den letzten Jahrhunderten verändert. Es werden keine Häuser mehr vom Sturm abgedeckt, die wilde Jagd zwischen den Jahren ist nicht mehr zu hören, der Fischfang samt Küstenschifffahrt ist unbedeutend geworden (und damit sinkt auch die Gefahr von im Meer ertrinkenden Familienmitgliedern), wir haben sogar den Wind für die Erzeugung von Strom gezähmt und können Stürme mit ziemlicher Sicherheit vorhersagen. Schon deutsche Gedichte der Romantik, die von den Naturgewalten sprechen, sind für uns heute in ihrer beschworenen Bedrohlichkeit kaum verständlich oder nachvollziehbar.

      Auch unser Verhältnis zu Wasserstraßen und Straßen allgemein hat sich völlig verändert. Wir sind es gewöhnt, beim Reisen auch an den Luftverkehr und die Eisenbahn zu denken; die Autobahn stellt eine völlig andere Art der Vorstellung von Transportwegen dar als die Straßen des Mittelalters. Die heutige Streckenplanung kann sich auf stabile Brücken, Fähren und regelmäßige Ozeanüberquerungen verlassen – alles Dinge, die noch vor 100 Jahren eine Ausnahme waren.

      Auch unsere räumliche Vorstellung von der Welt (die Landkarte, die wir in unserem Kopf mit uns herumtragen) hat sich deutlich verändert. Orte entlang ausgebauter Verkehrswege sind wesentlich leichter zu erreichen als Orte in entlegenen Gebieten. Der Mensch im Mittelalter dachte eher in konzentrischen Kreisen um seinen Wohnort herum, da seine Fortbewegungsgeschwindigkeit kaum zu steigern war, wenn er bestimmte Routen anderen vorgezogen hätte.

      Deutlich wird diese Verschiebung auch an der Veränderung der mythologischen Bedeutung von Straßen. So ist der Wandel von Wegen wie den mittelalterlichen Pilgerwegen oder der Seidenstraße hin zu Strecken wie der Route 66 oder dem Orient Express neben der Veränderung in der Geschwindigkeit auch ein Wandel im gewählten Verkehrsmittel.

      Der Schatz als ökonomische Herausforderung hat in den letzten Jahrhunderten seinen mythischen Charakter verloren (man denke nur an den Kessel voller Gold am Ende des Regenbogens). Die wenigen noch mythischen Schätze (Bernsteinzimmer etc.) sind mit eher negativen Erfahrungen verknüpft.

       b. Verschiebung von magischen Begrifflichkeiten

      Auch bei den magischen Begrifflichkeiten hat sich in den letzten Jahrhunderten einiges am Bedeutungsinhalt verschoben. So hat sich z.B. das Königsheil von Königen/Priestern weg zu öffentlichen Personen (Elvis etc.) hin verschoben. Wo früher noch der König für das Land stand (wie bei den Artus-Sagen), so ist es heute höchstens ein Präsident, der sein Leben für die Unschuld des Landes lassen muss (ich denke hier an Präsident Kennedy, dessen Regierungszentrale nicht umsonst Camelot genannt wurde!).

      Auch der Ort der Seele ist im Lauf der Jahrhunderte immer wieder im Körper verlegt worden, ohne dass die Seele irgendwo im Körper wirklich hätte festgelegt werden können. Scheinbar wandert der Ort der Seele – wie der Ort der Utopie – immer hinter den Horizont des gerade Erkennbaren und verbleibt immer genau hinter unserem Horizont.81 Und heute hat sich die Suche nach der Seele hinter den Nahtoderfahrungen etc. versteckt. Die wissenschaftliche Grenze hat sich verschoben, für das Organ Seele bleibt im Körper kein Platz mehr. Aber die Sinnsuche, die sich hinter der Suche nach der Seele verbirgt, braucht weiterhin Raum in unserem Leben.

      Auch die Zwerge und Elfen sind nur auf den ersten Blick aus unserer Mythologie verschwunden. Früher stahlen die Hügelvölker oder die Feen Kinder und entführten sie, in ihren Heimen lief die Zeit anders ab als in der realen Welt, und wer für sie arbeitete und ihre Geheimnisse wahrte, der wurde reich belohnt (diese Motive tauchen interessanterweise auch in den Märchen auf, in denen sich jemand für den Teufel verdingt – hier gibt es offensichtlich eine Gleichschaltung Feen/Hügelvolk – Teufel in der christlichen Mythologie). Heute sind es Außerirdische mit schmalen Händen und großen Augen, die unsere Kinder entführen, unsere Frauen schwängern, deren Zeit anders verläuft als unsere und die jene reich belohnen, die mit ihnen zusammenarbeiten. Die Parallelen sind unübersehbar. Aber da wir alle Hügel aufgegraben, alle Wälder abgeholzt haben, musste sich der Mythos halt in kleine Flugscheiben82 zurückziehen, die entweder aus dem Inneren der Erde, von der Rückseite des Mondes oder aus anderen Dimensionen kommen. Eine ähnliche Entwicklung hat nebenbei auch der Hausgeist hinter sich, wobei es einen eigenen Vortrag wert wäre, die Analogien zwischen Schüsseln Milch und Blumen für Hausgeister und Zuwendungen und Eigennamen für Computer herauszuarbeiten …

      Eine offensichtliche Veränderung verursachte auch die Entmythologisierung der Drachen nach der Entdeckung der Dinosaurier-Skelette im letzten Jahrhundert. Unsere Drachenmärchen wurden auf einmal als Erinnerungen an eine gemeinsame Koexistenz von Drachen und Menschen gedeutet, viele Darstellungen von Dinosauriern wurden verdrachtusw. Ein schönes Beispiel für diese Entwicklung sind Märchenbucher a la Dinotopia oder Die vergessene Welt von Arthur Conan Doyle – beides Bücher, in denen die genannte Koexistenz beschrieben wird.

      Die Veränderungen im Weltbild der Astrologie folgen auch wissenschaftlichen Entdeckungen.

      Die letzten drei Planeten [des Sonnensystems, HR] wurden erst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts entdeckt, lange nach der Entwicklung der traditionellen Analogien der ersten sieben Planeten: Uranus 1781, Neptun 1846 und Pluto 1930. Jedes Mal erfanden die Astrologen empirische ‚Deutungen‘, die schließlich als verbindlich akzeptiert wurden.83

      Die Festlegung einer Definition für den Einfluss der Planeten bzw. für ihre Rolle in der Astrologie dauerte unterschiedlich lange. Beim Uranus waren es noch 33 Jahre, beim Neptun sogar 44 Jahre und beim Pluto nur noch 2 (!) Jahre.84

      Auch das Bild von Äther und Sphären/Sphärenklängen sowie unser Verständnis der Sternbilder hat sich deutlich gewandelt. Wo früher die Sternbilder noch exakt standen und wir in den richtigen Häusern geboren wurden, so hat die Verschiebung der Sternbilder inzwischen dafür gesorgt, dass niemand mehr in seinem Haus geboren wird. Und der – vorher mehrmals physikalisch bewiesene Äther – musste genauso (wie die Sphären der Planeten) Federn lassen und darf jetzt nur noch als esoterische Analogie

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