Beatrice – Rückkehr ins Buchland. Markus Walther
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„Chaya, was machst du denn hier?“
Da Beatrice das Licht nicht eingeschaltet hatte, blieben die Gesichtszüge des Mädchens im Halbdunkel verborgen. Dennoch hatte sich das Kind auf subtile Art verändert. Irgendwie wirkte sie nicht mehr so zerbrechlich. Der Kopf hatte sich den restlichen Proportionen des Körpers ein klein wenig angepasst. Er schien nicht mehr viel zu groß im Vergleich zum dünnen Hals. War das möglich? Oder spielte Beatrice’ Wahrnehmung ihr einen Streich?
„Ich wollte das Buch zurückbringen.“ Aus einer kleinen Umhängetasche zog sie Pippi Langstrumpf heraus. „Ich habe es leer gelesen.“
Leer gelesen? Beatrice hatte natürlich schon öfters diese Formulierung zu hören bekommen. Die Leute sagten so was. „Ausgelesen“, „zu Ende gelesen“ oder eben „leer gelesen“. Doch aus Chayas Mund klang es, als würde sie es nicht im übertragenen Sinne meinen. Als sie einen Schritt nach vorne tat und das hereinfallende Mondlicht ihre Wangen streichelte, sah Bea diesen Gesichtsausdruck, der ehrliches Bedauern und eine unausgesprochene Bitte um Entschuldigung widerspiegelte.
Bea nahm das Buch entgegen. Selbst für ein Kinderbuch lag Pippi ungewöhnlich leicht in der Hand. Es erinnerte an ein Stück Pappmaché in Form eines Buches, wie es in Möbelhäusern verwendet wurde, damit die ausgestellten Schränke nicht so leer aussahen.
Eigentlich hätte Bea fragen können, warum Chaya gerade mitten in der Nacht das Buch zurückbringen wollte oder woher sie wusste, dass Bea hier war. Stattdessen fragte sie: „Was hast du mit dem Buch gemacht?“
Denn als sie das Buch aufschlug und die Blätter zwischen ihren Fingern hindurchgleiten ließ, … rieselte zarter Papierstaub auf den Boden. Die Seiten waren grau und ungewöhnlich dünn. Sie erinnerten an ein Gebetsbuch. Die Schwärze der gedruckten Buchstaben zeigte haarfeine Risse. „Was hast du mit dem Buch gemacht?“ Beatrice wiederholte die Frage. Es gelang ihr kaum, den Blick von Pippi zu lösen.
Chaya war einen Schritt zurückgewichen. Eine Antwort war ihr jedoch nicht über die Lippen gekommen. Verstört und ängstlich schaute sie zu Beatrice auf. Aber sie sagte nichts.
Als Beatrice ungeschickterweise ihre Frage ein drittes Mal wiederholte, flog die Ladentür auf und Chaya verlor sich auf der Straße wie ein Schatten in der Dunkelheit.
„Hier geht’s nicht mit rechten Dingen zu“, flüsterte Bea verwundert und benutzte damit eine Floskel, die auf abertausenden Klappentexten ein Zuhause hatte. „Das hätte Herrn Plana irgendwie gefallen.“ Es hätte ihm sogar ein Schmunzeln ins Gesicht gezaubert.
Der brüchige Einband zerfaserte zusehends zwischen Beatrice Fingern. In wenigen Minuten würde das Buch wahrscheinlich endgültig aus dem Leim fallen. Nie hatte sie ein Buch als so leblos empfunden. Vielleicht war es Zeit für etwas Buchland-Zauber. Eine Nacht inmitten der Artgenossen würde der gedruckten Version von Pippi Langstrumpf bestimmt gut tun. Beatrice schob das Buch zurück an seinen ursprünglichen Platz im Regal und beschloss, herzhaft gähnend, diesen merkwürdigen Tag enden zu lassen. Morgen würde wieder alles beim Alten sein.
Beatrice stellte fest, dass nichts wieder beim Alten war. Während die ersten Kunden im Laden stöberten und die üppig beladenen Auslagen betrachteten, klebte Beas Blick immer wieder entgeistert an dem schwarzen Strich fest, der durch die Lücke in den ansonsten geschlossenen Reihen im Bücherregal entstanden war. Dort, wo sie gestern das Kinderbuch eingeschoben hatte, lag ein klägliches Häuflein Staub. Wie konnte das sein? Wie konnte ein Buch innerhalb so kurzer Zeit zerfallen? Das hatte Beatrice noch nie erlebt. Schon gar nicht hier im Antiquariat. Hier starben keine Bücher! Hier lebten sie auf. Egal, was es zu bedeuten hatte: Es konnte nichts Gutes sein. Aber wenn sie Antworten finden wollte, gab es nur einen Ort, an dem sie danach suchen konnte. Während der Zeiger langsam über das Zifferblatt ihrer Armbanduhr kroch, überkam sie mehr und mehr ein Gefühl der Unruhe. Die Angst, dass etwas ihre Bücher bedrohte, machte sich schmerzhaft spürbar in ihren Knochen breit. Da war noch immer das Wispern um sie herum. Doch entgegen aller Erfahrungen, die sie bislang zwischen den Büchern gemacht hatte, klang es nun kläglich, geradezu krank.
Kurz vor Mittag entschied sie kurzerhand, den Laden zu schließen. Wenn in ihrem Antiquariat Bücher verschwanden, duldete es keinen Aufschub. Dass sie einer ihrer besten Kundinnen, Frau Richter, dabei die Tür quasi vor der Nase zusperrte, nahm sie in Kauf.
Sie eilte zum Maschinentelegraphen, ließ den Hebel an der richtigen Stelle einrasten und riss die Tür zur Kellertreppe auf. Sie war schon die ersten Stufen hinuntergerannt, bis sie abrupt stehen blieb.
„Was zum …“
Die in Stein geschlagenen Stufen wanden sich wie ehedem hinab. Die Finsternis wurde von den Glühbirnen in die Fugen zwischen den Steinen verbannt, doch ihr Licht wurde feucht glitzernd zurückgeworfen. Von der halbrunden Decke hingen kleine, schleimig grüne Stalaktiten herab. In der Luft schwebte ein unangenehmer Geruch, der an faulende Eier erinnerte.
„Es wäre schön, wenn ich jetzt meinen Herrn Plana an meiner Seite hätte“, flüsterte Bea in die Kälte, die ihren Atem in weiße Dunstschwaden verwandelte. „Ein Auktoral wüsste, was das zu bedeuten hat.“
Weitaus langsamer setzte sie ihren Weg hinunter fort. Dabei musste sie aufpassen, dass sie nicht ausglitt, denn mit jedem Schritt wurden die Stufen glitschiger. Moos, Schimmel und Schwamm hatten sich ausgebreitet, machten den Abstieg zu einem gefährlichen Unterfangen.
Unten angekommen nahm sie sich die Taschenlampe. Die Beleuchtung reichte zwar bis in die Abteilung mit den aktuellen Kinderbüchern, aber ihr Instinkt sagte ihr, dass etwas zusätzliches Licht nicht schaden konnte. Die Regale mit den Grüffelos und Elfen waren nicht weit entfernt und im Vergleich zu den restlichen Themengebieten relativ überschaubar. In einer Viertelstunde konnte sie da sein, sich ein neues Exemplar von Pippi nehmen und schleunigst wieder …
Entsetzt hinderte sie sich daran, den Gedanken zu Ende zu spinnen. Sie liebte das Buchland! Es war doch kein Ort, von dem sie fliehen wollte. Beatrice hob die Schultern, reckte das Kinn vor und wagte endlich, ihren Weg mutig fortzusetzen. Immerhin war hier unten alles in Ordnung. Was auch immer da im Treppenabgang passierte: Es passierte nur dort.
Alles in Ordnung!
Irgendwo knackte es.
Etwas Anderes trippelte über den steinernen Boden.
Kicherte da etwas? Oder jemand?
Bea drehte sich langsam um. Der Gang hinter ihr war genauso leer wie der Gang voraus. „Buh!“ Nein, das hatte niemand gesagt. Es lag nur unausgesprochen in der Luft.
Beatrice schluckte trocken. Der Kloß im Hals blieb davon unbeeindruckt. Er ließ ein zaghaftes „Hallo?“ der Kehle entweichen. Ein Echo, das unnatürlich laut zurückhallte, kam einer Antwort gleich. „Hallo!“
„Ist da jemand?“
Das Echo zerhackte ihren Satz. Aus allen Richtungen drangen ihre Worte zu ihr zurück. „Ist da jemand … da jemand … jemand … ist … da … jemand … da ist jemand.“
Herr Plana, dachte Bea, hätte jetzt gesagt: „Das Echo, welches Bücher erzeugen, ist nicht akustischer Natur.“ Nein, hier unten konnte es nicht so einen Widerhall geben. Sie hielt sich doch nicht in einer Schlucht aus Kalk und Granit auf. Hier gab es nur Holz und Papier.
Das