Beatrice – Rückkehr ins Buchland. Markus Walther
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„Das ist so eine Art anonymes Poesie-Album. Man stellt sich damit auf die Straße und bittet Passanten, sich darin einzutragen. Man kann auch Fotos einkleben oder lustige Sprüche reinschreiben. Gefällt mir, diese nette Idee. Sie konnte sich leider nicht durchsetzen.“
Bea sparte sich einen Kommentar und schaute schon nach dem nächsten Stapel mit Büchern. „Anonymus?“
„Ein begnadeter Schriftsteller“, behauptete Quirinus, „hat schon in den verschiedensten Genres etwas geschrieben. Ich bin ihm mal persönlich begegnet und hab’ mir einige seiner Werke signieren lassen.“
Mit wachsendem Erstaunen nahm Bea ein weiteres Taschenbuch. Es war gelb und in schwarzer, fetter Druckschrift stand dort: „Was-willst-Dudenn-Verlag?“
„Dieses Haus hat Sachbücher produziert“, erläuterte Quirinus süffisant, „konnte sich aber auf dem Markt nicht behaupten.“
„Warum?“
„Schauen Sie sich die Überschrift genauer an.“
Bea las laut: „Rechtschreibung for Anfängers“
„Das passiert, wenn man das Outsourcing zu weit treibt. Im Impressum steht irgendwo klein printed in Korea.“ Quirinus tippte sich seitlich an die Nase. „Ich habe fast die komplette Auflage aufgekauft. In einem Kuriositätenladen geht so was ganz gut. Dafür habe ich einen Riecher.“
„Das sind nicht unbedingt Bücher, die es in meinem Antiquariat gibt“, stellte Bea fest. Ein Schmunzeln konnte sie sich nun doch nicht verkneifen. Da sich ihre Laune sichtlich verbessert hatte, änderte auch Quirinus sein Gehabe. Er wurde ruhiger, weniger überdreht und seine Gesichtszüge bekamen einen Schuss mehr Ernsthaftigkeit.
„Och, ich kann mir schon vorstellen, dass es diese Werke tief vergraben in Ihrem Fundus gibt. Was ich hier anbiete, ist doch nur ein winziger Ausschnitt aus dem großen Land der Bücher.“ Während Bea sich fragte, ob der Kuriositätenhändler vielleicht mehr über sie und ihren Keller wusste, als er preisgab, fasste er sie sanft unter dem Arm und führte sie in die hinterste Ecke des Raumes. Erst jetzt fiel ihr auf, dass der Raum eine ungewöhnliche Form hatte: Es gab nicht nur vier, sondern fünf Wände. Sie bewegten sich durch eine architektonische Wabe. Jede gemauerte Wand hatte mittig eine Tür. Instinktiv ahnte Bea, dass dahinter eine weitere Wabe zu finden war. „Das Haus sah von außen gar nicht so groß aus.“
„Meinen Sie?“ Quirinus machte einen winzigen Hüpfer, den man auch als kurzes Stolpern deuten konnte. Im nächsten Augenblick hatte Bea ein beklemmendes Gefühl. Es kam ihr vor, als würde sich die Perspektive verändern. Alles rückte auf sie zu, ohne dass da wirklich Bewegung war. Die Distanzen blieben gleich und verkürzten sich gleichzeitig. Ein Meter ist ein Meter, bleibt ein Meter, redete sich Bea innerlich ein. Und doch …
„Ist Ihnen nicht gut? Sie wirken etwas bleich.“
„Ich glaube, es wird Zeit, dass ich gehe.“
„Einen klitzekleinen Moment noch! Verraten Sie mir, was Sie hier sehen?“ Mit ausgestrecktem Arm deutete Quirinus in eine Nische zwischen zwei Regalen. Dort war ganz eindeutig …
„Nichts“, antwortete Bea wahrheitsgemäß.
„Genau! Das sollte aber eigentlich nicht so sein. Mir fehlt hier ein ganz wichtiges Exponat, das ich mir beschaffen möchte. Ich bin mir sicher, es zu einem guten Preis weiterverkaufen zu können.“
„Ja?“ Bea stöhnte. Warum wurde ihr so schwindelig? Mit klaustrophobischen Anwandlungen hatte sie doch noch nie zu tun gehabt.
Quirinus packte sie fester. Vielleicht stützte er sie. Vielleicht verhinderte er aber auch nur, dass sie flüchtete. „Es ist ein ganz besonderes Werk. Einfach göttlich! Könnten Sie es mir besorgen?“
„Welche ISBN-Nummer hat es?“ Ihre Stimme hörte sich so fern an.
„Oh, nein. Das gute Stück hat keine ISBN-Nummer. Es stammt aus Zeiten weit vor dem Buchdruck.“
„Interessant“, keuchte Bea. Irgendwie schaffte sie es, sich aus dem Griff des Kuriositätenhändlers zu winden, wankte zurück, fort von ihm, zur Tür, durch die sie gekommen war. Um ein Haar wäre sie gefallen. Ihren Tunnelblick richtete sie mühsam und gegen eine Ohnmacht ankämpfend auf das Schaufenster. Tageslicht! Sie musste raus.
Frische Luft.
Offener Himmel.
Asphalt.
Ein Auto hupte. Jemand schimpfte lautstark. Eine Stoßstange hatte sich unangenehm nahe vor ihrer Stirn platziert. Bea schöpfte tief Atem und stellte fest, dass sie auf dem Mittelstreifen der Straße kniete. Sie richtete sich auf und torkelte benommen auf den Bürgersteig. Auf der gegenüberliegenden Seite sah sie den Kuriositätenladen. Durch das Fenster erkannte sie Quirinus und seinen Gehilfen. Irgendwo dahinter stand Chaya, die man nur noch als Schatten erahnen konnte.
Die Drei schauten Bea nach, als sie ihren Weg Richtung Antiquariat fortsetzte.
Wenn sie nicht gestorben sind
Auf dem Brett vor dem Schaufenster des Antiquariats saß Ingo. Die Beine weit ausgestreckt und mit dem Kinn auf der Brust vermittelte er den Eindruck eines Passanten, der ein Päuschen für ein Nickerchen eingelegt hatte.
Bea kannte diese Pose besser. Ihr Mann dachte nach.
Und außerdem war er sauer. Stinksauer.
„Hi“, sagte Bea leise, als sie zu ihm herantrat.
Ingo blieb regungslos. „Kannst du mir bitte verraten, wo du gewesen bist? Ein Zettel in der Ladentür ist ja wohl nicht die richtige Methode, um mal eben früher Feierabend zu machen. Ich wollte dich eigentlich abholen, damit wir zeitig loslegen können. Ich habe hier zwei Stunden auf dich gewartet.“
„Loslegen?“ Bea war mit den Gedanken noch halb in Quirinus’ Laden. Zwei Stunden hatte dies doch gar nicht gedauert … Ihr Puls raste zwar nicht mehr so, aber dafür hatte sich ein unangenehmer Kopfschmerz hinter den Schläfen breitgemacht.
„Wir wollten in den Keller“, erinnerte Ingo sie genervt.
„Du wolltest mit mir ins Buchland?“, fragte Bea endgültig perplex. Sie fühlte sich vollkommen ausgepowert.
„Nein“, sagte Ingo gedehnt. „Ich meine den Keller unserer Wohnung. Wir wollten heute ausmisten.“ Endlich hob er den Kopf und schaute sie an. „Du bist ja total durch den Wind. Was ist passiert?“ Das klang jetzt ehrlich besorgt.
„Ich wollte nur Chaya noch schnell ein Eis spendieren und dann nach Hause bringen. Quirinus hat sie nicht abgeholt.“
„Wer ist Chaya? Und wer ist Quirinus?“ Ingo stand auf, um Bea sanft zu umarmen. „Du bist ja nassgeschwitzt!“
„Ich hatte eben so was, was man wohl einen Anfall nennt. Platzangst oder so.“
„Du zitterst.“
„Jetzt, wo du es sagst, fällt es mir auch …“ Ihre Beine gaben nach und wäre Ingo nicht da gewesen, um sie aufzufangen, hätte sie gleich ein zweites Mal Bekanntschaft mit dem Asphalt gemacht.
Ingo