Das Gesetz des Ausgleichs. Johannes Huber

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Das Gesetz des Ausgleichs - Johannes Huber

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zwei Jahren stellte Santos das Seminar Die Wissenschaft des Wohlbefindens ins Vorlesungsverzeichnis und wurde von Studierenden auf der Suche nach Zufriedenheit und Glück elektronisch überrannt. Knapp 26 Millionen Mal riefen sie den Kurs auf. Die Geheimnisse des Innenlebens und vor allem der Weg zu innerer Ausgeglichenheit weckten mehr Neugier als jede andere Vorlesung am Campus. »Wir haben hier Handlungsbedarf«, resümierte Laurie Santos.2

      Die Wissenschaftlerin erfand das Rad nicht neu, sie riet zu relativ einfachen Dingen. In den Mittelpunkt stellte sie allerdings etwas, das auf den ersten Blick so gar nicht in unsere Zeit zu passen scheint, in der Ellbogenmentalität, Selbstdarstellung und Egozentrik auf allen Ebenen dominieren: Wer etwas Gutes für andere tut, fühlt sich auch selbst besser. Wir kennen das von den Pfadfindern. Jeden Tag eine gute Tat, und die Seele jubelt.

      Das Ganze hat einen relativ einfachen menschheitsgeschichtlichen Hintergrund. Die Evolution belohnt Verhaltensweisen, die das Überleben der Spezies sichern, zum Beispiel mit Ausschüttungen des Glückshormons Dopamin. Füreinander da zu sein, gehört zu diesen Verhaltensweisen, weil der vergleichsweise schwache Mensch Herausforderungen wie Säbelzahntiger oder andere Unbilden der Urzeit nur gemeinsam meistern konnte.

      Füreinander da zu sein, wiegt uns deshalb in einem Gefühl von Schutz, Geborgenheit und Sicherheit. Es lässt uns besser schlafen und senkt zum Beispiel den Spiegel des Stresshormons Cortisol in unserem Blut, mit allen damit verbundenen positiven Folgen für unsere Gesundheit. Egoisten hingegen suchen mit ihrer Scheuklappenmentalität das Glück eher, als dass sie es finden.

      Laurie Santos’ Ruf nach mehr Mitmenschlichkeit als Mittel zur seelischen und letztlich auch zur körperlichen Selbsttherapie war über Kontinente hinweg zu hören, wohl auch im asiatischen Staat Bhutan. Denn bereits im Jahr 1979 ging in Bhutan aus einer 200 Jahre alten Vorgeschichte der Begriff Bruttonationalglück hervor, international bekannt als Gross National Happiness. Bhutan definierte damit den Lebensstandard in breiter, humanistischer und psychologischer Weise und stellt dem herkömmlichen Bruttonationaleinkommen, in dem es nur um Geldflüsse geht, einen ganzheitlichen Wert gegenüber.3

      Eine Staatskommission ermittelt diesen Wert regelmäßig. Wie geht es der Bevölkerung? Was bewegt die Menschen? Was beschäftigt sie? Was erfreut sie. Was macht sie trübselig? Was geht ihnen zu Herzen oder auf die Nerven?

      So ein Barometer der inneren Ausgeglichenheit wäre überall auf der Welt wünschenswert. Nicht nur, um das individuelle Glück der Menschen zu mehren. In einer Welt, in der Glück einen politischen Stellenwert hat, wird aus den genannten einfachen evolutionsgeschichtlichen Gründen auch das Füreinander-da-Sein als Voraussetzung dafür unverzichtbar.

      Anders ausgedrückt: Ein Staat, der seine Bürger glücklich machen will, zeigt ihnen, dass sie besser gute Menschen sind. Wenn in einem Staat viele Menschen füreinander da sind, löst das fundamentale gesellschaftliche Probleme, die mit dem Narzissmus und der Vereinzelung einhergehen.

      Der Ruf nach Glück, Anstand und Moral war auch schon vor Laurie Santos’ erstaunlich erfolgreicher Initiative massentauglich, doch nicht immer ist er wie bei ihr von Wahrhaftigkeit getragen. Haltung, Ethik, Menschlichkeit. Die Schlagwörter tauchen heute in Gesprächen schnell einmal auf, doch das Gutsein in einem tiefen, evolutionären und spirituellen Sinn musste dabei vielfach dem »Gutmensch-Sein« weichen, das politisch meist linke Gruppen zu einem Dogma erhoben. Mit Verhaltensvorgaben, die teilweise nicht als wesentlich erlebbar sind, aber dennoch durch den digitalen Pranger geahndet werden, was zu einer Art modernem Tugendterror führte.

      Gut zu sein, darauf sollten wir uns an dieser Stelle einigen, darf kein Trend sein, mit dem sich bestimmte Gruppen schmücken. Es muss aus uns selbst kommen. Als Entscheidung. Aus Überzeugung.

      »Moralische Vollendung ist nicht länger das Privileg einiger weniger Asketen und Altruisten«, beklagte in diesem Zusammenhang der deutsche Publizist und Philosoph Alexander Grau. »Moralischer Kitsch macht Moral zum Massengut. Jeder kann hochmoralisch sein, zu jeder Zeit. Es reicht aus, einfach die richtigen Phrasen abzusondern. Man muss nur für Frieden sein, für Toleranz und natürlich Haltung zeigen. Das alles kostet nichts, gibt aber ein gutes Gefühl und entlastet von Reflexion.«

      Grau fand mit leiser Ironie, dass wir aufpassen sollten, keinen moralischen Kitsch zu erzeugen, nur um vor uns selbst oder in einer Blase Gleichgesinnter gut dazustehen. Rechtschaffenheit ist kein Gütesiegel, das sich jemand anheftet wie ein Autokennzeichen oder ein Namensschild. Sie ist vielmehr ein Gut, das wachsen und in uns reifen muss und so etwas wie Seelen-Selbst-Erforschung voraussetzt, für die wir uns bewusst entscheiden müssen. Denn nur Erkenntnisse machen uns weiser und bilden eine Richtschnur, die uns auch besser macht.4

      Der österreichische Schriftsteller und Journalist Robert Misik konterte Alexander Grau mit einem philosophischen Gedanken, der Hoffnung macht. »Der Mensch ist ein veränderbares Tier«, lautet er. Menschen ändern sich wie die Figuren in einem Videospiel, die neue Kräfte bekommen oder Lebenspunkte verlieren, wenn sie falsch agieren, und ihr Tun wirkt immer auf sie und auf die Welt zurück.

      Wir können etwas ändern, wenn wir wollen, und unser Wirken nach einem moralischen Kompass ausrichten. Allerdings reicht es dabei nicht, Worthülsen wiederzugeben, Sprachregelungen zu befolgen und Empörungsreflexe zu zeigen, die vom modernen Gutmenschen-Dogma bestimmt sind. Wir fühlen es selbst: Das wäre zu einfach.5

      Wenn wir wirklich bessere Menschen werden wollen, mit allen Vorteilen, die das zum Beispiel in Laurie Santos’ Sinne haben, müssen wir in uns gehen und es so machen wie die Wiener Philharmoniker, die ihren festen Sitz im unweit von meiner Wiener Ordination gelegenen Goldenen Saal des Musikvereins haben: Wir müssen üben, üben, üben.

      Nach dem Untergang des Römischen Reiches war das Üben als massentaugliche menschliche Erfolgsstrategie 1.500 Jahre lang weitgehend vergessen. Erst um 1900 entdeckten wir es wieder, dank des Pädagogen und Sportfunktionärs Pierre de Coubertin, der Muskelübungen empfahl.6 Körperliche Übungen und deren sinnvolle Effekte sind selbstverständlich für uns. Im Jahr 2019 waren rund 11,7 Millionen Menschen in einem der fast 10.000 deutschen Fitnessklubs aktiv.7 In Österreich gibt es mehr als 1.200 Studios mit mehr als einer Million Mitglieder.8

      Dass sich auch unser Gutsein, also unser Charakter, durch Übung stärken lässt, hat sich weit weniger gut durchgesetzt. Dies, obwohl prominente Akteure der deutschen Geistesgeschichte das regelmäßig betonten. Rudolf Steiner oder etwa Friedrich Nietzsche taten es mit ganz ähnlicher Intention. Wir müssen den Menschen dazu bringen, gut zu sein, denn nur so kann er über sich hinauswachsen, glaubten sie.

      Mario Schönhart, Herausgeber des Buches Spiel mit der Wirklichkeit: Zum Erfahrungsbegriff in den Naturwissenschaften bezeichnete eine dementsprechende Initiative des Philosophen Peter Sloterdijk als »alternative Athletik«, die an die Stelle eines »Sklavenaufstandes in der Moral« trete.

      Diesen Gedanken, der sich auch innerlich schon viel eher nachvollziehen lässt als das Gutmenschen-Dogma mit dem Tugendterror, ist allerdings kein globaler. Er ist vor allem ein europäischer, vielleicht auch einer der westlichen Welt, dem allerdings die Version Chinas zum Gutsein gegenübersteht.

      Der Zwang zum Gutsein

      Uns Europäern gesteht unser Weltbild die einmalige Chance zu, Emotionen zügeln zu lernen, weniger durch äußeren Zwang als aus innerer Überzeugung. Wir können sozusagen aus freien Stücken von Henkern zu Denkern wachsen. Wir können uns, ausgehend von dem, was wir bei unserer Geburt und unserer Sozialisierung mitbekommen haben, selbst weiter sozialisieren und damit unseren Charakter individuell bilden.

      In China funktioniert das anders. China hat ein System geschaffen, das den äußeren Zwang

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