Das Gesetz des Ausgleichs. Johannes Huber
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Wenn Millionen Menschen täglich auf Laufbändern rennen und Gewichte stemmen, um ihren Körper zu trainieren, müsste so etwas doch auch für den Geist möglich sein. Klimmzüge für eine bessere Gesinnung sozusagen. Liegestütze für den Frohsinn und ein Ergometer für die inneren Werte. Warum gibt es das nicht, ein Trainingsprogramm für den Charakter, das womöglich auch noch Spaß macht und aufregend ist, wenn die Effekte davon unser Leben und vielleicht auch alles, was nach dem Leben kommt, so viel besser macht?
Es ist nicht so, dass es ein solches Trainingsprogramm ganz und gar fehlt. Uralte spirituelle Traditionen kennen einige derartige »Fitnessgeräte«, und die Naturwissenschaften kennen zumindest einige Bestandteile solcher Geräte, die wir nur zusammenbauen müssen.
Bei den spirituellen Traditionen wären sowohl christliche Kirchen wie auch Freimaurer hervorzuheben, die immer überzeugt waren, dass die ständige Arbeit an uns selbst zu Selbsterkenntnis und einem menschlicheren Verhalten führt. Für Letztere geht es deshalb darum, ihre fünf Grundideale Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Toleranz und Humanität im Alltag praktisch einzuüben.
Bei den Naturwissenschaften wären die Epigenetik, oder die Endokrinologie, die Wissenschaft von den Hormondrüsen, hervorzuheben, die gezeigt haben, dass wir kraft unseres Willens, bessere Menschen zu werden, sogar unsere Bio- und Neurochemie ändern können (siehe auch Teil 3). Wir haben bloß, abgelenkt vom Konsumieren und vom Strampeln in unseren Hamsterrädern, diese Geräte entweder schon lange nicht mehr abgestaubt oder sie noch nicht zusammengebaut. Beides will ich in dem Bereich, der sich mir als Arzt und Theologe aufdrängt, nachholen. Und zwar anhand von fünf ganz einfachen Dingen, von denen wir alle schon gehört haben, die teilweise altmodisch geworden sind und die wir nur mit neuen Augen betrachten müssen. Willkommen auf einem kleinen Fitness-Parcours der Seele mit seinem Fitness-Code.
Charakterfitness-Trainingsstufe eins:
Gut werden im Schlaf
Um gute Menschen sein zu können, müssen wir unser Gehirn von den Spuren von Stress und negativen Gedanken wie Ängsten, Sorgen und Wut reinigen. Diese Spuren haben biochemischen Charakter und die Evolution hat uns ein Mittel zur Verfügung gestellt, sie zu beseitigen: den Schlaf. Was genau dabei passiert, entdeckte die Wissenschaft erst 2012 in Form des sogenannten glymphatischen Systems. Halten wir uns bei unseren Entscheidungen konsequent an dessen von der Natur vorgegebenen Regeln, setzen wir einen Kreislauf in Gang, der uns ganz von selbst zu besseren Menschen macht.15
Die Evolution hat uns mit einer Anlage zur Reinigung unseres Gehirns von den Spuren unserer schlechten Gedanken beschenkt. Die Naturwissenschaft entdeckte sie im Jahr 2012, also vor relativ einigen Jahren, und nannte sie »das glymphatische System«. Diese Anlage sorgt dafür, dass sich die Gehirnzellen nachts ein wenig zusammenziehen und zwischen den Zellen Freiräume entstehen, die wir uns als winzige Autobahnen vorstellen können. Als Autobahnen, auf denen noch winzigere Müllwägen die Abfälle abtransportieren, die während eines langen Tages in einem Gehirn so anfallen, in Form von biochemischen Spuren von Stress, von Sorgen und Ängsten, aber auch von Wut und Hass.
Das glymphatische System sammelt diese Rückstände und entsorgt sie wie eine fantastisch organisierte Müllabfuhr. Ganz von selbst, Nacht für Nacht. Wir müssen uns dazu nur hinlegen und schlafen, idealerweise vor Mitternacht, weil dann die Müllabfuhr am effizientesten funktioniert. Für die Entdeckung und jahrelange Untersuchung dieser medizinischen Frohbotschaft könnte die Forscherin Maiken Nedergaard, die in Rochester und Kopenhagen wirkt, schon bald den Nobelpreis bekommen.
Das glymphatische System hat zwei wunderbare Vorteile. Es steht uns allen jederzeit zur Benützung zur Verfügung und es hat das Zeug, uns zu besseren Menschen zu machen. Wir müssen seine Funktion dazu nur noch um einen Schritt genauer durchdenken: Während wir schlafen, wie gesagt idealerweise vor Mitternacht, arbeitet es. Morgens, wenn wir ausgeruht aufstehen, ist es fertig. Der Müll und auch die Müllwägen sind wieder verschwunden. Sogar die Autobahnen sind wieder verschwunden, weil sich unsere Gehirnzellen wieder ausgedehnt haben.16
Nun beginnt der Tag mit Nachrichten über Klimawandel, vielleicht mit Kindern, die nicht aufstehen wollen und mit Menschen, denen wir etwas sagen wollen, die wir aber nicht erreichen können, mit Gedrängel in öffentlichen Verkehrsmitteln oder mit Stau auf der Straße, mit beruflichem Stress und gesundheitlichen Sorgen, und mit allem, was sonst noch so an Unerquicklichem zu einem ganz normalen Leben gehört. Kurz gesagt: Neuer Müll sammelt sich im Gehirn an, neue biochemische Materialisierungen negativer Gedanken. Er wird im Verlauf des Tages immer mehr.
Was bedeutet das für uns bei dem Versuch, bessere Menschen zu sein? Es bedeutet, dass wir uns darin üben sollten, wichtige Entscheidungen nicht gleich zu treffen. Wir sollten uns, sozusagen aus glymphatischen Gründen, darin üben, dem ersten Impuls zu widerstehen. Wir sollten vor allem wichtige Entscheidungen immer am Morgen oder am Vormittag treffen, wenn die nächtliche Müllabfuhr gerade da war und unser Gehirn sauber, frisch und frei ist. Dann tun wir uns am leichtesten mit Entscheidungen gemäß der besten Version von uns selbst, anstatt mitten in einer vielleicht schon kräftig angewachsenen Müllhalde die falschen Reflexe zu zeigen.
Das ideale Zeitfenster für den wachen, gereinigten Geist sind also der Morgen und der Vormittag. Im Laufe des Tages nimmt diese Geistesschärfe wieder ab und unser Realitätssinn trübt sich wieder ein. Am Nachmittag und vor allem spät am Abend und nachts tragen wir dann schon wieder viel Gedankenmüll mit uns herum.
Wer dann noch wichtige Entscheidungen trifft, beraubt sich selbst des glymphatischen Vorteils. Überschlafe die wichtigen Dinge erst einmal, besagt völlig zu Recht eine Weisheit des Volksmundes, auf die wir uns wieder besinnen sollten.
Leben wir glymphatisch und machen wir uns damit sympathisch: Während wir abends eine E-Mail noch wütend beantwortet hätten, bemerken wir am nächsten Vormittag vielleicht, dass sich der Absender nur im Ton vergriffen oder wir einfach etwas falsch gedeutet oder überinterpretiert haben.
Wenn wir trotzdem sofort in die Tasten gegriffen und eine deftige Antwort mit vielen bösen Rufzeichen losgeschickt hätten, hätten wir uns vielleicht in Schwierigkeiten manövriert, die im schlechtesten Fall irreversibel gewesen wären.
Nur weil irgendjemand in Unkenntnis seiner Neurobiologie irgendetwas nicht überschlafen wollte und mit einem dafür falsch konfigurierten Mindset reagierte, haben in Unternehmen bestimmt schon viele Kriege begonnen, und nicht nur dort.
Was gesunder Schlaf, der übrigens auch das Abnehmen erleichtert und Wunden schneller heilen lässt, für unser Gehirn so alles tun kann, zeigten Experimente bereits im Jahr 2004. Versuchspersonen mussten Zahlenrätsel lösen, die mehrere Einzelschritte erforderten. Es gab eine Abkürzung, durch die sich einige Schritte vermeiden ließen. Nach der Einübungsphase durfte ein Teil der Probanden acht Stunden lang schlafen. Danach erkannten in dieser Gruppe mehr als doppelt so viele die schnelle Lösung. Jene Gruppe, die wach geblieben war, sah nur den langen Weg der Einzelschritte.
Die verbrauchte Energie des Tages legt sich über die Wahrnehmung wie ein Gazeschleier. Wir können uns bei einem Vorhaben noch so sehr anstrengen und abmühen, das Ergebnis wird nur mit ausreichend Schlaf und einer glymphatischen Terminplanung richtig gut.
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