Das Gesetz des Ausgleichs. Johannes Huber

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Das Gesetz des Ausgleichs - Johannes Huber

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Enzensberger heiligt also auch der Schutz der Rechtsstaatlichkeit nicht jedes Mittel. So drängt sich auch nach der Veröffentlichung des sogenannten Ibiza-Videos, an dem 2019 die österreichische Bundesregierung zerbrach, die Frage auf, ob hier der Zweck tatsächlich die Mittel geheiligt hatte. Ob es tatsächlich Ziele gibt, die so bedeutend sind, dass sie die Verletzung des Datenschutzes beziehungsweise der Privatsphäre rechtfertigen. Im Falle von Politikern scheint das Medienrecht das zu bejahen.

      Wobei es hier im medienrechtlichen Detail nicht darum geht, dass dieses Video veröffentlicht wurde, sondern wie. Jene Passagen, die Empörung auszulösen in der Lage waren, standen mit Bild und Text im Vordergrund, jene Passagen, in denen die Inkriminierten, vor allem der ehemalige österreichische Vizekanzler Heinz-Christian Strache, betonten, dass sie nichts tun würden, dass gegen die Gesetze sei oder Österreich schaden würde, standen im Kleingedruckten. Die unter medialem Applaus gefeierte Gewichtung Enzensbergers und Schirrmachers der Privatsphäre fanden dabei jedenfalls keine Berücksichtigung.

      Heiligt der Zweck die Mittel? Bertolt Brecht, ein einflussreicher deutscher Dramatiker, beschäftigte sich ebenfalls mit dieser Frage. 1930 wurde sein Stück Die Maßnahme uraufgeführt. Darin findet sich der Schlüsselsatz: »Wer eine bessere Welt will, muss töten können.« Und zwar mit gutem Gewissen und auch ohne Gerichte.

      Die Frage, wie weit die Revolution moralische und rechtliche Grundsätze verletzen darf, um Ausbeutung und Unterdrückung wirksam zu bekämpfen, die Brecht damit aufwarf, war eigentlich an die marxistische, menschenverachtende Terrorherrschaft Lenins und Stalins gestellt. Heute ließe sich der Schlüsselsatz aus Die Maßnahme so formulieren: Wer die Welt von politisch Andersdenkenden befreien möchte, dem sind keine ethischen Grenzen gesetzt, auch nicht in den sozialen Medien und beim Dirty Campaigning.

      Heiligt der Zweck die Mittel?

      Auch Thomas Mann befasste sich in seinem großen Bildungsroman Zauberberg damit. Anhand der düsteren Figur des Fanatikers Leo Naphta zeichnet er eine Gestalt, die bemüht war, allen Unmenschlichkeiten eine dogmatische Grundlage zu geben. Er schuf damit eine »zweite Ethik«, die den Terror rechtfertigt, wenn damit das Ziel erreicht wird.

      Auch heute scheint es eine Tendenz zu geben, die eigene politische Meinung über demokratische Grundlagen zu stellen und so den Zweck die Mittel heiligen zu lassen. So verbot die linke Stadtregierung in Berlin, wo Demonstrationen zum Stadtbild gehören, Corona-Großdemonstrationen und vermischte dabei virologische und weltanschauliche Bedenken. Die Argumente des SPD-Senators Andreas Geisels waren fragwürdig. »Sie wecken Zweifel an der Verfassungstreue des rot-rot-grünen Berliner Senats. Und sie nähren den Verdacht, der Kampf gegen die Pandemie werde missbraucht, um missliebige Meinungen zum Schweigen zu bringen«, hieß es dazu in einem Kommentar der Neuen Zürcher Zeitung.24

      Das alles sind Hinweise darauf, dass wir uns auch als Gesellschaft nie selbstgefällig unseres Gutseins sicher sein dürfen. Auch wir haben den Charakter-Fitness-Parcours dringend nötig. Wenn wir müde werden, ihn zu benützen, erodiert die Zivilgesellschaft tatsächlich.

      Charakterfitness-Trainingsstufe vier:

      Halte die andere Wange hin

      Die Königsdisziplin ist das Nachgeben. Auf den ersten Blick sieht es immer so aus, als wären wir damit die Verlierer. Doch eine nähere Betrachtung zeigt, dass das Nachgeben die höchste Form des Kompromisses und damit mindestens ebenso erfolgsversprechend ist. Und würden wir alle, bildlich gesprochen, die zweite Wange hinhalten, statt zurückzuschlagen, würde sich das Gute auf der Welt mit exponentieller Geschwindigkeit ausbreiten.

      Ein umfangreicher Teil der Weltgeschichte, nämlich jener des Kriegsgeschehens, lässt sich mit zwei Sätzen erklären: Kriege können entstehen, wenn jemand eine Ohrfeige bekommt und sofort zurückschlägt. Schlägt er nicht zurück, sondern hält er, bildlich gesprochen, die zweite Wange hin, gibt es keinen Krieg. Die Botschaft lautet: Üben wir uns im Nachgeben, denn es verbessert die Welt und bringt uns dem Himmel näher.

      Die Kunst besteht darin, Aggressionen, die uns widerfahren, nicht sofort mit Aggression zu beantworten. Das verlangt nach innerer Kraft. Jemand behandelt uns ungerecht, doch wir fahren ihm nicht sofort mit unseren Krallen ins Gesicht, sondern warten, denken nach und zügeln unsere negative Energie. Dadurch bleibt ein Kampf aus. Dadurch erhöhen wir uns. Dadurch wachsen wir über uns hinaus. Dadurch wird die Welt besser. Nachzugeben ist die erweiterte Form des Kompromisses. Es ist im wahrsten Sinn des Wortes eine Königsdisziplin.

      Einlenken tut gut. Das ist wissenschaftlich evident. Wir leben gesünder, wenn wir darauf verzichten, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Die Studien dazu sind in einer Meta-Analyse zum Thema Herzerkrankungen zusammengefasst. Sie zeigen das Naheliegende: Zorn erhöht das Herzinfarktrisiko signifikant.25

      Der Blutdruck steigt rapide an, der Puls hämmert, der Atem wird heiß, die Augen sehen rot. Wer sich wie ein Pitbull auf seinen Widersacher stürzt, versetzt auf Dauer seiner eigenen Gesundheit den Todesstoß. Denn das Herz ist das Organ der Liebe. Es sieht es nicht gerne, wenn der Hass dominiert. Wird der Groll zur treibenden Kraft, gibt das Herz irgendwann auf.

      Wir lächeln heute über die Bibelstelle, die uns sinngemäß empfiehlt, die zweite Wange hinzuhalten, wenn uns jemand ohrfeigt. Wie dumm ist das denn? Wer will sich denn auf die Art als Weichei outen? Irgendwann scheinen wir das Gefühl für das Majestätische am Nachgeben verloren zu haben.

      Dabei ist die Aggression, derer wir uns gerade in unserer Empörungsgesellschaft so gerne bedienen, nichts weiter als die simpelste Art, einem Zwist zu begegnen. Es ist das Schwert des Stümpers, nicht das Florett des Weisen. Die Geschichte ist voll von Beispielen dafür, dass Nachgeben die bessere Strategie ist.

      Eines davon geben Napoleon Bonaparte und sein Kratzbaum Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord. Während Napoleon zum Jähzorn neigte, war Talleyrand, ehemals Bischof von Autun, später Außenminister Napoleons und sein engster Berater, ein Ausbund an Selbstkontrolle. Niemals widersprach Talleyrand seinem Herrn, den er auch wie einen solchen behandelte. Ihm wird folgender Satz zugeschrieben: »Ich bin ein alter Parapluie, auf den es seit vierzig Jahren regnet, was macht mir da ein Tropfen mehr oder weniger?«

      Überliefert ist eine Szene, in der sich Napoleon mit hochrotem Kopf auf die Zehen stellte, um ganz nahe an das Gesicht des größeren Talleyrand heranzukommen. »Wissen Sie, was Sie sind?«, schrie er ihn an. »Sie sind nichts als Scheiße in Seidenstrümpfen!« Daraufhin rannte der Kaiser aus dem Zimmer, um gleich darauf wieder zurückzukehren und weiter auf seinen Getreuen einzuschreien. Wenn es »eine Revolution, einen Putsch oder sonst irgendwas« gäbe, werde er, Talleyrand, einer der ersten sein, die dran glauben würden. »Merken Sie sich das!«, schrie er.

      An dem majestätisch gelassenen Talleyrand perlte derlei ab. »Schade, dass ein so großer Mann so schlechte Manieren hat«, soll er bloß beim Hinausgehen gesagt haben. Napoleon musste dann auch vor ihm »dran glauben«. Als Napoleon nach St. Helena verbannt wurde und dort an Magenkrebs mit Lymphknotenbefall starb, blieb Talleyrand ein Faktor in der Politik. Er diente in seinem politischen Leben sechs Regimen. Zuerst der vorrevolutionären Kirche, danach der Revolution, dem Direktorium, dem Kaiserreich, den Bourbonen und am Ende dem Bürgerkönig Louis Philippe. Das Geheimnis hinter seiner Strategie war, einstecken zu können, ohne auszuteilen. In seiner Branche gibt es dafür auch ein Wort mit zehn Buchstaben: Diplomatie. Der Zornige gewinnt vielleicht eine Schlacht, aber nie den Krieg.26

      In dieser Kunst übte sich im Mai 2020 übrigens auch der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz in bemerkenswerter Weise. Es ging um die Situation der Kunst in der Corona-Krise. In einer Einblendung kritisierte ihn der Direktor des Theaters an der Josefstadt ungewöhnlich hart und teilweise untergriffig. Der Kanzler nickte. »Der Herr Direktor hat recht. Wir

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