Das Gesetz des Ausgleichs. Johannes Huber
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Das Gesetz des Ausgleichs - Johannes Huber страница 8
Der Kompromiss, den die Evolution hier schloss, ist fast ein wenig unfair. Okay, sagte sie, ich kann dir den Schmerz nicht nehmen, aber ich kann immerhin dafür sorgen, dass du ihn vergisst. Sie schuf ein eigenes Hormon, das die Erinnerungen an die Wehen und an die Schmerzen der Geburt einfach ausradiert.
Obwohl die Fortpflanzung für die Evolution den höchsten Stellenwert hat, geht sie selbst hier Kompromisse ein, bei denen sie notfalls auf Nachwuchs verzichtet. Das tut sie dann, wenn es um altes gegen neues Leben geht. Wenn sie den Eindruck gewinnt, dass die Frau zu wenige Ressourcen hat, um eine Geburt zu überstehen, zum Beispiel zu wenig Energie oder zu wenig Gewicht, stellt sie die Fortpflanzung im Körper der betreffenden Frau bis auf Weiteres ruhig. Die Frau hat keine Regel und keinen Eisprung mehr.
Unser Körper ist voller Kompromisse, ohne die das System Mensch nicht funktionieren würde. Doch der Kompromiss ist nicht nur das grundlegende biologische Erfolgskonzept. Auch innerhalb der menschlichen Gemeinschaft gewinnen auf Dauer immer nur die, die von ihrer Sturheit ablassen, einlenken und mit anderen einen gemeinsamen Weg finden.
Frieden ist immer ein einziger Kompromiss
Der erste Friedensvertrag der Geschichte ist im Gebäude der Vereinten Nationen in New York ausgestellt. Unterschrieben haben ihn am 10. November des Jahres 1259 v. Chr. Pharao Ramses II. und der hethitische Großkönig Hattušili III.23 Beide Herrscher erkannten einander mit dem Vertrag als gleichrangige Partner an. Als solche versprachen sie sich wechselseitig militärischen Beistand gegen innere und äußere Bedrohungen. Somit waren sie gemeinsam stärker. Dass dieser Vertrag an einem so exponierten Ort zu bewundern ist, hat gute Gründe. Kompromisse und die menschliche Fähigkeit dazu schaffen Zuversicht, und Zuversicht gibt Kraft, die Zukunft zu bewältigen.
Ein besonders interessanter Friede war der Westfälische. Er umfasste zu viele und so weitreichende Kompromisse, dass ihm Juristen bis heute hohe historische Bedeutung beimessen. Wobei dieser Friede auch ein erzwungener war. Denn alle Kriegsparteien waren am Boden und konnten einfach nicht mehr. Kompromisse zu schließen war die einzige Möglichkeit, wie es irgendwie weitergehen konnte. Wobei sich angesichts der derzeitigen Entwicklung der Welt der Gedanke aufdrängt: Fangen wir doch besser gleich jetzt zu reden an als später, wenn schon alles kaputt ist.
Erfolgsmodell Kooperation
Die Grundlage für das Schließen von Kompromissen ist die Bereitschaft zur Kooperation. Wer kooperieren will, muss meist Kompromisse schließen, und wer Kompromisse schließt, will meist kooperieren. Interessante Hinweise auf die Erforschung der Kompromissbereitschaft gibt das sogenannte Gefangenendilemma.
Das Gefangenendilemma ist ein mathematisches Spiel aus der Spieltheorie. Es modelliert die Situation zweier Gefangener, die beschuldigt werden, gemeinsam ein Verbrechen begangen zu haben. Ein Staatsanwalt verhört die beiden Gefangenen einzeln. Sie können also nicht miteinander kommunizieren. Leugnen beide das Verbrechen, erhalten beide eine niedrige Strafe, da ihnen nur eine weniger streng bestrafte Tat nachgewiesen werden kann. Gestehen beide, erhalten beide wegen ihres Geständnisses eine hohe Strafe, aber nicht die Höchststrafe. Gesteht jedoch nur einer der beiden Gefangenen, geht dieser als Kronzeuge straffrei aus, während der andere als überführter, aber nicht geständiger Täter die Höchststrafe bekommt.
Das Dilemma besteht nun darin, dass sich jeder Gefangene entscheiden muss, entweder zu leugnen, also mit dem anderen Gefangenen zu kooperieren, oder zu gestehen, also den anderen zu verraten, ohne die Entscheidung des anderen zu kennen. Das letztlich verhängte Strafmaß richtet sich allerdings danach, wie die beiden Gefangenen zusammengenommen ausgesagt haben und hängt damit nicht nur von der eigenen Entscheidung, sondern auch von der Entscheidung des anderen Gefangenen ab.
Die auf Dauer für alle Beteiligten erfolgversprechendste Strategie ist die Kooperation. In Experimenten waren viele Mitspieler dazu auch bereit. In einem mit vierzig Mitspielern, die jeweils zwanzig Spiele paarweise absolvierten, betrug die Kooperationsrate im Durchschnitt allerdings doch nur relativ bescheidene 22 Prozent.
Schon Aristoteles hielt allerdings in der Nikomachischen Ethik fest: »Die beste Art Freundschaft erfordert ein Verhältnis unter Gleichrangigen, das ein wechselseitiges Geben und Nehmen ermögliche.«
Kooperation heißt demnach immer, dass wir einen Preis zahlen, um einem anderen einen Nutzen zu verschaffen. Auf diese Art erkaufen wir uns selbst Nutzen sowie Reputation. Reputation spielt dabei eine bedeutendere Rolle, als wir zunächst glauben würden.
Wir opfern zum Beispiel wertvolle Zeit, um einem Fremden zu helfen und nehmen dafür in Kauf, zu einem wichtigen Termin zu spät zu kommen. Wir bauen so aber auf lange Sicht eine Reputation auf, die mehr wert ist, als sie an Zeit gekostet hat.
Denn niemand verweigert gerne einer Person mit hoher Reputation Hilfe, das schadet der eigenen Reputation ganz besonders. Bei egoistischen Personen mit geringem Ansehen ist das etwas anderes. Ihre Bitte um Hilfe können wir viel eher unbeschadet ignorieren.
Das gilt übrigens nicht nur für jeden einzelnen Menschen, sondern auch für Gruppen und für Gruppen von Gruppen bis hin zu Staaten. Wenn Griechenland Hilfe braucht, ist die Staatengemeinschaft zur Stelle. Wenn ein Schurkenstaat Hilfe braucht, wendet sie sich ab und denkt, dass die jeweilige Regierung besser die Lehren aus der Not ziehen sollte.
Interessant ist hier übrigens auch der medizinische Zusammenhang von Kooperation und Kapital. Wenn wir uns mit etwas eine gute Reputation verschaffen, werden im Belohnungszentrum des Gehirns dieselben Schaltungen aktiv wie beim Geldverdienen. Reden ist Silber, Schenken ist Gold.
Faule Kompromisse
Hinter Kompromissen können sich also immer auch egoistische Abwägungen verbergen, was immer noch besser ist als Krieg. Allerdings gibt es auch faule Kompromisse, etwa zwischen Ethik und Pragmatik, zu denen es immer dann kommt, wenn der Zweck die Mittel heiligen soll. Kann der Zweck die Mittel überhaupt heiligen, und wenn ja, inwieweit heiligt er sie?
Im Zuge der Corona-Krise etwa tauchte die Frage auf, ob individuelle Freiheitsrechte aus Gründen der Staatsräson beschnitten werden dürfen. Heiligt der Zweck wirklich die Mittel oder bekommen wir irgendwann auf jeden Fall die Rechnung dafür präsentiert, in Form einer Erosion unserer Zivilgesellschaft?
Ein Beispiel aus der Vergangenheit ist die Exekution Osama bin Ladens. Die emotional verständliche, aber rechtsstaatlich fragliche Ermordung eines Terrorchefs, die per Video ins Oval Office von Barack Obama übertragen wurde, ist zumindest diskussionswürdig.
Natürlich hat bin Laden die freiheitliche Seele der Welt verletzt. Amerika drängte darauf, die Mordopfer von 9/11 zu rächen. Aber ein Todesurteil, und das ist der Punkt, kann nicht das Weiße Haus verhängen und, außerhalb von Kriegszeiten, auch nicht das Militär. Natürlich wäre seine Übergabe an ein Gericht der korrekte Weg gewesen. Inwieweit machen sich sogenannte zivilisierte Staaten mit so einem Vorgehen selbst zu Schurkenstaaten, zumindest schleichend? Interessanterweise waren die, die dabei am meisten applaudiert haben, die amerikanischen Medien selbst. Gut so, meinten sie. Yes we can.
Ein anderes Beispiel. Der Dichter Hans Magnus Enzensberger nahm 2013 gemeinsam mit dem deutschen Journalisten Frank Schirrmacher an einer Diskussion teil. Dabei ging es auch um die Frage, ob Staaten Terroristen überwachen dürfe. »In jeder Verfassung der Welt steht das Recht auf Privatsphäre«, sagte er dazu. »Dieses Recht auf die Unverletzlichkeit der Wohnung wird abgeschafft.