Alles beginnt und endet im Kentucky Club. Benjamin Alire Saenz

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Alles beginnt und endet im Kentucky Club - Benjamin Alire Saenz

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ist. Aber er glaubt mir nicht. Er hat Angst, das Haus zu verlassen. Nos matan, sagt er. Ich versuche ihm zu erklären, dass niemand uns etwas antun wird – aber es ist sinnlos. Jedes Mal, wenn ich fortgehe, sagt er mir, ich soll aufpassen.«

      »Und das tust du?«

      »Ich habe keine Angst, umgebracht zu werden. Du etwa?«

      »Ich lebe nicht in Juárez.«

      »Morde gibt’s in jeder Stadt.«

      Ich wollte mich nicht streiten. Nicht über so etwas. Was brachte das schon? Und er kannte Juárez besser als ich. »Du hast recht«, sagte ich.

      »Gerade hab ich noch etwas über dich gelernt.«

      »Was denn?«

      »Du lügst nicht besonders gut.«

      »Das war mal anders.« Ich fragte mich, was von meinem Gesicht abzulesen war. »Ich an deiner Stelle hätte Angst, glaube ich.«

      »Was nützt es, Angst zu haben, Carlos?«

      »Überhaupt nichts«, sagte ich. Er sah mich prüfend an.

      Ich hatte Lust, ihn noch einmal zu küssen. Vielleicht würde er den Kuss erwidern. Vielleicht würde ich mir auch nur wie ein totaler Idiot vorkommen. Ich konnte so etwas einfach nicht. Hatte es noch nie gekonnt. Manche Männer ließen sich mit Anmut auf die Liebe ein. Ich war zaghaft und unbeholfen.

      »Was ist?« Er sah mich an.

      »Gar nichts.«

      »Du hast mich schon wieder beobachtet.«

      »Ja.«

      »Es macht mir nichts aus. Mir gefällt es, wie du mich ansiehst.«

      »Ich könnte dich immer so ansehen«, sagte ich.

      »Du kannst mich noch mal küssen«, sagte er.

      Er neigte den Kopf und blickte zu Boden. Er war schüchtern, vielleicht auch nur bescheiden. Das war das Einzige an ihm, was ich mir nicht ausdenken konnte – dass er bescheiden war. Dass er freundlich war. Dass er anständig war. Gutaussehende Männer hatten selten diese Eigenschaften.

      Ich küsste ihn noch einmal.

      Er flüsterte meinen Namen. Ich fragte mich, wie sich mein Name auf seiner Zunge anfühlte.

      »Javier«, flüsterte ich zurück. »Weißt du, wie lange es her ist, dass ich jemanden geküsst habe?«

      Er blickte zu mir hoch. »Spielt das denn eine Rolle?«

      »Küssen ist eine ernste Sache.«

      Er küsste mich wieder. »Das hat sich aber nicht so ernst angefühlt, oder?«

      »Doch«, sagte ich. »Oh doch.« Wir schwiegen eine ganze Weile.

      »Ich muss gehen«, flüsterte er. »Er wartet auf mich.«

      »Kochst du für ihn?«

      »Ja.«

      »Ich gebe zu, ich bin eifersüchtig auf deinen Onkel.«

      »Du bist kein eifersüchtiger Typ«, sagte er.

      »Vielleicht doch.«

      »Nein.«

      Er war sich so sicher, mich zu kennen. Ich wollte nicht, dass er ging. Er trat näher. Ich war im Begriff, etwas zu sagen, aber er legte mir einen Finger auf die Lippen. Ich wusste selbst nicht so genau, was ich sagen wollte. Und manchmal spielt es ohnehin keine Rolle, was man sagt. Es spielt einfach keine Rolle. Er wollte nicht, dass ich ihn hinfuhr. »Mein Onkel wohnt nicht weit von hier – ich gehe lieber zu Fuß.«

      Vielleicht brauchte er etwas Zeit zum Nachdenken. Über mich. Vielleicht. Ich wollte aufhören. Ich wollte aufhören, darüber zu schreiben, wer er war und was er dachte. Diese Geschichte fing an, mir aus den Fingern zu gleiten.

      Als er ging, lauschte ich seinen Schritten auf der Treppe. Dann rannte ich auf den Balkon und sah zu, wie er die Straße entlang lief. Als er an der Ecke ankam, drehte er sich um. Er winkte. »Ich wusste, dass du da stehen würdest«, schrie er.

      Ich antwortete nichts.

      Ich stand einfach nur da, über das Balkongeländer gebeugt. Und sah zu, wie er am Horizont mit der Stadt verschmolz.

      6

      Am Montagmorgen bekam ich eine sms von ihm: Ich habe beim Aufwachen an dich gedacht. Ich las die sms und las sie dann noch einmal. Und noch einmal.

      Ich fühlte mich wie ein Schuljunge, der eine Nachricht von einem Mädchen erhält. Nein, eine Nachricht von einem Jungen.

      Ich wusste nicht, was ich auf seine sms antworten sollte. Diese Mode machte ich ohnehin nur mit, weil meine Nichten und Neffen es von mir erwarteten. Wir schrieben einander alberne und nette Dinge. Aber das hier war anders.

      Schließlich, gegen Mittag, simste ich ihm zurück: Pass auf dich auf! Genau das schrieb ich. Genau da wurde mir klar, dass ich Angst hatte. Ich mochte mir nicht vorstellen, dass Javier allein durch die Straßen von Juárez lief, um einzukaufen, in einen Laden ging und umgebracht wurde, rein zufällig, ohne jeden Grund. Was nützt es, Angst zu haben? Er hatte recht. Natürlich hatte er recht. Aber so viele Menschen waren schon fortgegangen. Warum nicht auch er? Ich kannte die Antwort, noch bevor ich mir die Frage stellte. Er gehörte nicht zu denen, die fortgehen. Er liebte sein Juárez. Ich konnte es in seinen Augen sehen, in seinem unrasierten Gesicht, in der Art, wie er sich bewegte und sprach. Ich konnte seine Liebe zu dieser armen, elenden Stadt beinahe in seinen Küssen schmecken.

      Es machte mich wütend, dass Juárez so chaotisch und brutal und unberechenbar geworden war, eine Stadt, die nach dem Blut ihrer eigenen Leute lechzte. Wie hatte das geschehen können? Ich war es leid, so irrsinnig leid, dass die Toten nur noch gezählt wurden, dass all das Morden unaufgeklärt und unbestraft blieb. Man konnte einfach jemanden umbringen, wenn man wollte. Und was würde passieren?

      Nichts. Diese verdammte Stadt kümmerte sich nicht mehr darum, wen es erwischte. Bald würde man einfach über die Leichen hinweg steigen. Pass auf dich auf. Pass auf dich auf. Pass auf dich auf.

      7

      Am nächsten Sonntag stand er vor meiner Tür. Es war früh am Morgen. »Mein Onkel ist gestern Abend ins Krankenhaus gebracht worden.«

      »Du siehst müde aus«, sagte ich. Und er sah wirklich müde aus. Müde und traurig, sein weißes Hemd zerknittert.

      »Ich hab auf einem Stuhl in seinem Krankenzimmer geschlafen.«

      Wir gingen die Treppe hoch zu meiner Wohnung.

      »Ich mag deine Welt«, sagte er, während er das neue Bild ansah, an dem ich arbeitete. Dann bemerkte er die Worte auf meinem Computer. »Warst du gerade am Schreiben?«

      »Ja.«

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