1975. Wolfram Hanel
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Woraufhin sie alle reichlich sauer gewesen waren. Kerschkamp hatte so lange herumgestänkert, bis sie Hansi erklärten, dass sie ohne ihn nach Frankreich fahren würden. Er sei so was wie ein Kameradenschwein, und sie könnten gut auf ihn verzichten. Hansi schien das völlig egal zu sein, oder zumindest tat er so, als wäre es ihm völlig egal, er drückte Appaz nur schulterzuckend und mit schiefem Grinsen die Schlüssel in die Hand.
Jetzt matschte er also wie üblich seine Fladen zusammen und benahm sich, als wäre nie etwas gewesen. Und natürlich verschwand er dann irgendwann wieder mit Biggi in dem Geräteschuppen gleich neben dem Steg, auf dem sie hockten. Aber das kannten sie schon. Sie hatten auch schon hundertmal Hansis Stöhnen gehört, das immer klang, als würde er gleich einen Herzkollaps kriegen, während Biggi ganz still blieb. Deshalb war Ratte fest davon überzeugt, dass Hansi etwas falsch machen musste.
Irgendwann wurde es so kalt, dass sie keine Lust mehr hatten. Buchmanns Hemd war angekokelt, weil er halb im Feuer gelegen hatte.
»Scheiße«, sagte er, »Scheißescheißescheiße.«
Fluchend kletterte er hinter Kerschkamp auf die Kreidler, und ohne Licht kurvten sie den Feldweg hoch. Lepcke schwankte quer über den Acker.
Anette fuhr den Bus, weil sie nie etwas trank und auch nicht viel kiffte. Weniger als die anderen jedenfalls. Sie kriegte den Rückwärtsgang nicht gleich rein, und Hansi grinste blöde. Als das Getriebe kreischte, hielt er sich demonstrativ die Ohren zu. Anette versuchte hochzuschalten, ohne zu kuppeln. Appaz sah an ihrem Gesicht, dass sie es mit voller Absicht tat. Er sagte nichts, sondern hielt nur den Kopf ans offene Fenster und zählte die Straßenlaternen. Kam aber immer nur bis fünf.
Sabine musste mit Ratte losgezogen sein. Jedenfalls rief Ratte am nächsten Mittag bei Appaz an und faselte irgendwas davon, dass er die ganze Nacht nicht geschlafen habe und dass es zum Schluss nicht mehr witzig gewesen sei. Weil Sabine immer wieder angefangen habe, auch als er schon längst nicht mehr konnte. Zum Glück habe sich sein großer Bruder irgendwann beschwert, sonst würde Sabine jetzt immer noch auf Ratte nach Laramie reiten. Ratte klang wirklich fertig, als er das erzählte.
Rattes großer Bruder hieß Udo, und sie wohnten zusammen in einem Zimmer. Udo hatte sich für vier Jahre zum Bund verpflichtet, aber weil die Kaserne gleich um die Ecke war, durfte er zu Hause schlafen. Wenn er nicht gerade im Bau saß, was allerdings häufiger vorkam. Beim letzten Mal hatten sie ihn alle Mann besucht und erst ein paar Runden Mau-Mau mit ihm gespielt und dann Käpt’n Nuss, bis die Flasche billiger Whiskey, die Kerschkamp an der Wache vorbeigeschmuggelt hatte, unwiderruflich leer war. Was nicht allzu lange gedauert hatte.
Soweit Appaz sich erinnerte, war Udo da eingebuchtet, weil er ein paar Nächte zuvor schwer betrunken die Schaufensterscheibe von irgendeinem Fernsehladen eingeschlagen hatte und dann in aller Ruhe mit einem originalverpackten Fernseher unter jedem Arm die Fußgängerzone hochgetorkelt war. In Ausgehuniform!
Aber jedenfalls hielt Udo Appaz und die anderen jetzt für seine besten Freunde, seit sie ihn im Bau besucht hatten, und wollte sie unbedingt managen. Sie hatten nämlich eine Band, Pain in the Ass, mit Lepcke als Sologitarristen, Buchmann am Bass und dem Dicken am Schlagzeug.
Eigentlich hatte Kerschkamp Schlagzeug spielen sollen. Aber dann war der Dicke gekommen und hatte von einem Kumpel eine Gesangsanlage besorgt, womit die Sache klar war. Kerschkamp spielte jetzt noch bei zwei Songs Bongos, aber man hörte ihn kaum, weil sie nur ein Mikro hatten, und das brauchte Appaz zum Singen.
Sie waren nicht gut, aber verdammt laut.
Ratte spielte Rhythmusgitarre und konnte sich keinen Griff länger merken als für die nächsten zwei Stunden, von irgendwelchen Riffs ganz zu schweigen. Und der Dicke zerhackte regelmäßig ein paar Sticks pro Song. Trotzdem hatten sie immerhin schon drei Auftritte gehabt, den ersten auf einer Solidaritätsveranstaltung im Unabhängigen Jugendzentrum Kornstraße »gegen Entlassungen und Unterdrückungen«, und die beiden anderen bei irgendwelchen Dorffesten im »Gasthaus zur Eiche« in Ehlershausen, wo der Dicke einen Onkel hatte, der im Gemeinderat saß. Fast hätten sie auch noch auf einer Zigeunerhochzeit gespielt, hatten aber in letzter Minute wieder abgesagt, weil sie Schiss bekamen, dass Ratte sich an die Braut ranmachte und sie dann alle zusammen einen auf die Fresse kriegen würden.
Ihren Übungsraum hatten sie im Keller unter dem Lebensmittelgeschäft von Buchmanns Eltern. Und wenn Udo Ausgang hatte und nicht gerade wieder irgendwo einen Bruch machte, hing er mit einer seiner ohne Ausnahme wasserstoffblond gefärbten Freundinnen bei ihnen im Keller rum und träumte von deutlich besseren Zeiten, in denen er ihnen als ausgebuffter Rockmanager richtige Konzerte mit gigantischen Gagen besorgen würde. Aber immerhin hatte er ihnen zunächst schon mal den Typen besorgt, der für hundert Mark bar auf die Kralle ihren Bus hintenrum durch den TÜV brachte. Mit Stempel und Plakette und allem, was dazugehört, ganz seriös.
Das mit dem TÜV hatte Hansi nämlich irgendwie verpennt gehabt. Und auch Kerschkamp hatte nur durch Zufall gesehen, dass der Bus bereits seit drei Monaten überfällig war. Ihr daraufhin gestarteter Versuch, höchstpersönlich bei den Herren von der technischen Überwachung vorzufahren, war eigentlich schon nach dem ersten Blickkontakt zwischen Appaz und dem Prüfer gescheitert. Da hätte der Graukittel nicht erst noch seinen Schraubenzieher in den hoffnungslos durchgerosteten Seitenschweller bohren müssen.
Für ihre Frankreichfahrt hatte Udo ihnen noch einen Suchscheinwerfer vom Bund mitgebracht, ein Riesending, das sie vorne genau in die Mitte des Daches schrauben wollten. Weshalb Appaz jetzt am Mittag nach ihrer kleinen Abiturfeier am Kiesteich Kerschkamp abholte und mit ihm zu dem Dicken nach Hause fuhr. Bei Ratte versuchten sie es gar nicht erst, »der soll lieber seine Eier kühlen«, sagte Kerschkamp nur, nachdem Appaz ihm von Rattes Anruf erzählt hatte.
Der Dicke wohnte zwei Häuser neben Lepcke. Solange sein Vater zur Arbeit war, konnten sie den Bus vor die Garage stellen, sich Strom aus dem Keller holen und schrauben und basteln, ohne dass sich irgendjemand aufregte. Im Gegenteil, die Oma vom Dicken fand das sogar gut, weil sie ein bisschen Abwechslung in ihren Alltag brachten. Sie hockte immer hinter dem Fenster im ersten Stock und beobachtete jeden ihrer Schritte. Und immer, wenn einer von ihnen zufällig zu ihr hochguckte, hob sie die Hand und winkte. Sie winkten natürlich zurück. Die Oma vom Dicken war nett, da waren sich alle einig.
Der Dicke war bei Telefunken und lernte Elektriker. Er hatte ihnen schon einen Spannungswandler für den Bus gebaut, von 220 auf 6 Volt, damit sie Kerschkamps Kassettenrecorder anschließen konnten. Eigentlich wäre der Dicke auch gern mit nach Frankreich gefahren, aber seit dem zweiten Auftritt in Ehlershausen hatte er eine Freundin, und nun wollte er doch lieber zusammen mit ihr irgendwo anders hin, erst Verwandte im Schwarzwald besuchen oder so was, und dann weiter nach Italien. Komischerweise hatten die beiden ausgerechnet Buchmann eingeladen mitzukommen. Und Buchmann hatte zugesagt.
Aber im Moment musste der Dicke ihnen erst noch helfen, den Suchscheinwerfer zu montieren. Während Kerschkamp und Appaz also die letzten Fettplocken hinten aus dem Laderaum kratzten und Lepcke sein in der Nacht zuvor von Buchmann vollgekotztes Zelt mit einem Schlauch abspritzte, holte der Dicke eine Leiter und die Bohrmaschine von seinem Alten und legte los.
Das Problem war nur, dass der Bus vorne in der Mitte so eine Art Lüftungstunnel hatte. Das Dach ragte ein wenig über die geteilte Windschutzscheibe hinaus und in dem Überhang befanden sich auf jeder Seite zwei Lüftungsschlitze, die den Fahrtwind in eben diesen Tunnel leiteten. In der Fahrerkabine gab es dann unter der Decke einen Hebel, mit dem man den Luftstrom