Maximen und Reflexionen. Johann Wolfgang Goethe
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424. Es ist eine schlimme Sache, die doch manchem Beobachter begegnet, mit einer Anschauung sogleich eine Folgerung zu verknüpfen und beide für gleichgeltend zu achten.
425. Die Geschichte der Wissenschaften zeigt uns bei allem, was für dieselben geschieht, gewisse Epochen, die bald schneller, bald langsamer auf einander folgen. Eine [70]bedeutende Ansicht, neu oder erneut, wird ausgesprochen; sie wird anerkannt, früher oder später; es finden sich Mitarbeiter; das Resultat geht in die Schüler über; es wird gelehrt und fortgepflanzt, und wir bemerken leider, daß es gar nicht darauf ankommt, ob die Ansicht wahr oder falsch sei: beides macht denselben Gang, beides wird zuletzt eine Phrase, beides prägt sich als todtes Wort dem Gedächtniß ein.
426. Zur Verewigung des Irrthums tragen die Werke besonders bei, die encyklopädisch das Wahre und Falsche des Tages überliefern. Hier kann die Wissenschaft nicht bearbeitet werden, sondern was man weiß, glaubt, wähnt, wird aufgenommen; deßwegen sehen solche Werke auch nach funfzig Jahren gar wunderlich aus.
427. Zuerst belehre man sich selbst, dann wird man Belehrung von andern empfangen.
428. Theorien sind gewöhnlich Übereilungen eines ungeduldigen Verstandes, der die Phänomene gern los sein möchte und an ihrer Stelle deßwegen Bilder, Begriffe, ja oft nur Worte einschiebt. Man ahnet, man sieht auch wohl, daß es nur ein Behelf ist; liebt sich nicht aber Leidenschaft und Parteigeist jederzeit Behelfe? Und mit Recht, da sie ihrer so sehr bedürfen.
429. Unsere Zustände schreiben wir bald Gott, bald dem Teufel zu und fehlen ein- wie das anderemal: in uns selbst liegt das Räthsel, die wir Ausgeburt zweier Welten sind. Mit der Farbe geht’s eben so: bald sucht man sie im Lichte, bald draußen im Weltall, und kann sie gerade da nicht finden, wo sie zu Hause ist.
430. Es wird eine Zeit kommen, wo man eine pathologische Experimentalphysik vorträgt und alle jene [71]Spiegelfechtereien an’s Tageslicht bringt, welche den Verstand hintergehen, sich eine Überzeugung erschleichen und, was das Schlimmste daran ist, durchaus jeden praktischen Fortschritt verhindern. Die Phänomene müssen ein- für allemal aus der düstern empirisch-mechanisch-dogmatischen Marterkammer vor die Jury des gemeinen Menschenverstandes gebracht werden.
431. Daß Newton bei seinen prismatischen Versuchen die Öffnung so klein als möglich nahm, um eine Linie zum Lichtstrahl bequem zu symbolisiren, hat eine unheilbare Verirrung über die Welt gebracht, an der vielleicht noch Jahrhunderte leiden.
Durch dieses kleine Löchlein ward Malus zu einer abenteuerlichen Theorie getrieben, und wäre Seebeck nicht so umsichtig, so mußte er verhindert werden, den Urgrund dieser Erscheinungen, die entoptischen Figuren und Farben zu entdecken.
432. Was aber das Allersonderbarste ist: der Mensch, wenn er auch den Grund des Irrthums aufdeckt, wird den Irrthum selbst deßhalb doch nicht los. Mehrere Engländer, besonders Dr. Reade, sprechen gegen Newton leidenschaftlich aus: das prismatische Bild sei keineswegs das Sonnenbild, sondern das Bild der Öffnung unseres Fensterladens, mit Farbensäumen geschmückt; im prismatischen Bilde gebe es kein ursprünglich Grün, dieses entstehe durch das Übereinandergreifen des Blauen und Gelben, so daß ein schwarzer Streif eben so gut als ein weißer in Farben aufgelös’t scheinen könne, wenn man hier von Auflösen reden wolle. Genug, alles, was wir seit vielen Jahren dargethan haben, legt dieser gute Beobachter gleichfalls vor. Nun aber läßt ihn die fixe Idee einer diversen [72]Refrangibilität nicht los, doch kehrt er sie um und ist wo möglich noch befangener als sein großer Meister. Anstatt, durch diese neue Ansicht begeistert, aus jenem Chrysalidenzustande sich herauszureißen, sucht er die schon erwachsenen und entfalteten Glieder auf’s neue in die alten Puppenschalen unterzubringen.
433. Das unmittelbare Gewahrwerden der Urphänomene versetzt uns in eine Art von Angst: wir fühlen unsere Unzulänglichkeit; nur durch das ewige Spiel der Empirie belebt, erfreuen sie uns.
434. Der Magnet ist ein Urphänomen, das man nur aussprechen darf, um es erklärt zu haben; dadurch wird es denn auch ein Symbol für alles Übrige, wofür wir keine Worte noch Namen zu suchen brauchen.
435. Alles Lebendige bildet eine Atmosphäre um sich her.
436. Die außerordentlichen Männer des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts waren selbst Akademien, wie Humboldt zu unserer Zeit. Als nun das Wissen so ungeheuer überhand nahm, thaten sich Privatleute zusammen, um, was den Einzelnen unmöglich wird, vereinigt zu leisten. Von Ministern, Fürsten und Königen hielten sie sich fern. Wie suchte nicht das französische stille Conventikel die Herrschaft Richelieu’s abzulehnen! Wie verhinderte der englische Oxforder und Londner Verein den Einfluß der Lieblinge Karls des Zweiten!
Da es aber einmal geschehen war und die Wissenschaften sich als ein Staatsglied im Staatskörper fühlten, einen Rang bei Processionen und andern Feierlichkeiten erhielten, war bald der höhere Zweck aus den Augen verloren; man stellte seine Person vor, und die Wissenschaften hatten auch Mäntelchen um und Käppchen auf. In meiner [73]Geschichte der Farbenlehre habe ich dergleichen weitläuftig angeführt. Was aber geschrieben steht, es steht deßwegen da, damit es immerfort erfüllt werde.
437. Die Natur auffassen und sie unmittelbar benutzen ist wenig Menschen gegeben; zwischen Erkenntniß und Gebrauch erfinden sie sich gern ein Luftgespinnst, das sie sorgfältig ausbilden und darüber den Gegenstand zugleich mit der Benutzung vergessen.
438. Eben so begreift man nicht leicht, daß in der großen Natur das geschieht, was auch im kleinsten Cirkel vorgeht. Dringt es ihnen die Erfahrung auf, so lassen sie sich’s zuletzt gefallen. Spreu, von geriebenem Bernstein angezogen, steht mit dem ungeheuersten Donnerwetter in Verwandtschaft, ja ist eine und eben dieselbe Erscheinung. Dieses Mikromegische gestehen wir auch in einigen andern Fällen zu, bald aber verläßt uns der reine Naturgeist, und der Dämon der Künstelei bemächtigt sich unser und weiß sich überall geltend zu machen.
439. Die Natur hat sich soviel Freiheit vorbehalten, daß wir mit Wissen und Wissenschaft ihr nicht durchgängig beikommen oder sie in die Enge treiben können.
440. Mit den Irrthümern der Zeit ist schwer sich abzufinden: widerstrebt man ihnen, so steht man allein; läßt man sich davon befangen, so hat man auch weder Ehre noch Freude davon.
[74]Aus Wilhelm Meisters Wanderjahren.
1829.
(Betrachtungen im Sinne der Wanderer.
Kunst, Ethisches, Natur.)
441. Alles Gescheidte ist schon gedacht worden, man muß nur versuchen, es noch einmal zu denken.
442. Wie kann man sich selbst kennen lernen? Durch Betrachten niemals, wohl aber durch Handeln. Versuche, deine Pflicht zu thun, und du weißt gleich, was an dir ist.
443. Was aber ist deine Pflicht? Die Forderung des Tages.
444. Die vernünftige Welt ist als ein großes unsterbliches Individuum zu betrachten, das unaufhaltsam das Nothwendige bewirkt und dadurch sich sogar über das Zufällige zum Herrn macht.
445. Mir wird, je länger ich lebe, immer verdrießlicher, wenn ich den Menschen sehe, der eigentlich auf seiner höchsten Stelle da ist, um der Natur zu gebieten, um sich und die Seinigen von der gewaltthätigen Nothwendigkeit zu befreien, wenn ich sehe, wie er aus irgend einem vorgefaßten falschen Begriff gerade das Gegentheil thut von dem, was er will, und sich alsdann, weil die Anlage im Ganzen verdorben ist, im Einzelnen kümmerlich herumpfuschet.
446. Tüchtiger thätiger Mann, verdiene dir und erwarte
von