Maximen und Reflexionen. Johann Wolfgang Goethe

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Maximen und Reflexionen - Johann Wolfgang Goethe Reclams Universal-Bibliothek

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style="font-size:15px;">      vorbereitende,

      begleitende,

      mitwirkende,

      nachhelfende,

      fördernde,

      verstärkende,

      hindernde,

      nachwirkende.

      537. Im Betrachten wie im Handeln ist das Zugängliche von dem Unzugänglichen zu unterscheiden; ohne dieß läßt sich im Leben wie im Wissen wenig leisten.

      538. »Le sens commun est le Génie de l’humanité.«

      539. Der Gemeinverstand, der als Genie der Menschheit gelten soll, muß vorerst in seinen Äußerungen betrachtet [90]werden. Forschen wir, wozu ihn die Menschheit benutzt, so finden wir Folgendes:

      Die Menschheit ist bedingt durch Bedürfnisse. Sind diese nicht befriedigt, so erweis’t sie sich ungeduldig; sind sie befriedigt, so erscheint sie gleichgültig. Der eigentliche Mensch bewegt sich also zwischen beiden Zuständen, und seinen Verstand, den sogenannten Menschenverstand, wird er anwenden, seine Bedürfnisse zu befriedigen; ist es geschehen, so hat er die Aufgabe, die Räume der Gleichgültigkeit auszufüllen. Beschränkt sich dieses in die nächsten und nothwendigsten Gränzen, so gelingt es ihm auch. Erheben sich aber die Bedürfnisse, treten sie aus dem Kreise des Gemeinen heraus, so ist der Gemeinverstand nicht mehr hinreichend, er ist kein Genius mehr, die Region des Irrthums ist der Menschheit aufgethan.

      540. Es geschieht nichts Unvernünftiges, das nicht Verstand oder Zufall wieder in die Richte brächten; nichts Vernünftiges, das Unverstand und Zufall nicht mißleiten könnten.

      541. Jede große Idee, sobald sie in die Erscheinung tritt, wirkt tyrannisch; daher die Vortheile, die sie hervorbringt, sich nur allzubald in Nachtheile verwandeln. Man kann deßhalb eine jede Institution vertheidigen und rühmen, wenn man an ihre Anfänge erinnert und darzuthun weiß, daß alles, was von ihr im Anfange gegolten, auch jetzt noch gelte.

      542. Lessing, der mancherlei Beschränkung unwillig fühlte, läßt eine seiner Personen sagen: »Niemand muß müssen.« Ein geistreicher frohgesinnter Mann sagte: »Wer will, der muß.« Ein Dritter, freilich ein Gebildeter, fügte hinzu: »Wer einsieht, der will auch.« Und so glaubte man [91]den ganzen Kreis des Erkennens, Wollens und Müssens abgeschlossen zu haben. Aber im Durchschnitt bestimmt die Erkenntniß des Menschen, von welcher Art sie auch sei, sein Thun und Lassen; deßwegen auch nichts schrecklicher ist, als die Unwissenheit handeln zu sehen.

      543. Es gibt zwei friedliche Gewalten: das Recht und die Schicklichkeit.

      544. Das Recht dringt auf Schuldigkeit, die Polizei auf’s Geziemende. Das Recht ist abwägend und entscheidend, die Polizei überschauend und gebietend. Das Recht bezieht sich auf den Einzelnen, die Polizei auf die Gesammtheit.

      545. Die Geschichte der Wissenschaften ist eine große Fuge, in der die Stimmen der Völker nach und nach zum Vorschein kommen.

      546. Man kann in den Naturwissenschaften über manche Probleme nicht gehörig sprechen, wenn man die Metaphysik nicht zu Hülfe ruft; aber nicht jene Schul- und Wortweisheit: es ist dasjenige, was vor, mit und nach der Physik war, ist und sein wird.

      547. Autorität, daß nämlich etwas schon einmal geschehen, gesagt oder entschieden worden sei, hat großen Werth; aber nur der Pedant fordert überall Autorität.

      548. Altes Fundament ehrt man, darf aber das Recht nicht aufgeben, irgendwie wieder einmal von vorn zu gründen.

      549. Beharre, wo du stehst! – Maxime, nothwendiger als je, indem einerseits die Menschen in große Parteien gerissen werden, sodann aber auch jeder Einzelne nach individueller Einsicht und Vermögen sich geltend machen will.

      550. Man thut immer besser, daß man sich grad ausspricht, wie man denkt, ohne viel beweisen zu wollen; [92]denn alle Beweise, die wir vorbringen, sind doch nur Variationen unserer Meinungen, und die Widriggesinnten hören weder auf das Eine noch auf das Andere.

      551. Da ich mit der Naturwissenschaft, wie sie sich von Tag zu Tage vorwärts bewegt, immer mehr bekannt und verwandt werde, so dringt sich mir gar manche Betrachtung auf über die Vor- und Rückschritte, die zu gleicher Zeit geschehen. Eines nur sei hier ausgesprochen: daß wir sogar anerkannte Irrthümer aus der Wissenschaft nicht los werden. Die Ursache hievon ist ein offenbares Geheimniß.

      552. Einen Irrthum nenn’ ich, wenn irgend ein Ereigniß falsch ausgelegt, falsch angeknüpft, falsch abgeleitet wird. Nun ereignet sich aber im Gange des Erfahrens und Denkens, daß eine Erscheinung folgerecht angeknüpft, richtig abgeleitet wird. Das läßt man sich wohl gefallen, legt aber keinen besondern Werth darauf und läßt den Irrthum ganz ruhig daneben liegen, und ich kenne ein kleines Magazin von Irrthümern, die man sorgfältig aufbewahrt.

      553. Da nun den Menschen eigentlich nichts interessirt als seine Meinung, so sieht jedermann, der eine Meinung vorträgt, sich rechts und links nach Hülfsmitteln um, damit er sich und andere bestärken möge. Des Wahren bedient man sich, so lange es brauchbar ist; aber leidenschaftlich-rhetorisch ergreift man das Falsche, sobald man es für den Augenblick nutzen, damit als einem Halbargumente blenden, als mit einem Lückenbüßer das Zerstückelte scheinbar vereinigen kann. Dieses zu erfahren war mir erst ein Ärgerniß, dann betrübte ich mich darüber, und nun macht es mir Schadenfreude: ich habe mir das Wort gegeben, ein solches Verfahren niemals wieder aufzudecken.

      [93]554. Jedes Existirende ist ein Analogon alles Existirenden; daher erscheint uns das Dasein immer zu gleicher Zeit gesondert und verknüpft. Folgt man der Analogie zu sehr, so fällt alles identisch zusammen; meidet man sie, so zerstreut sich alles in’s Unendliche. In beiden Fällen stagnirt die Betrachtung, einmal als überlebendig, das andere Mal als getödtet.

      555. Die Vernunft ist auf das Werdende, der Verstand auf das Gewordene angewiesen; jene bekümmert sich nicht: wozu? dieser fragt nicht: woher? – Sie erfreut sich am Entwickeln; er wünscht alles festzuhalten, damit er es nutzen könne.

      556. Es ist eine Eigenheit dem Menschen angeboren und mit seiner Natur innigst verwebt: daß ihm zur Erkenntniß das Nächste nicht genügt; da doch jede Erscheinung, die wir selbst gewahr werden, im Augenblick das Nächste ist und wir von ihr fordern können, daß sie sich selbst erkläre, wenn wir kräftig in sie dringen.

      557. Das werden aber die Menschen nicht lernen, weil es gegen ihre Natur ist; daher die Gebildeten es selbst nicht lassen können, wenn sie an Ort und Stelle irgend ein Wahres erkannt haben, es nicht nur mit dem Nächsten, sondern auch mit dem Weitesten und Fernsten zusammenzuhängen, woraus denn Irrthum über Irrthum entspringt. Das nahe Phänomen hängt aber mit dem fernen nur in dem Sinne zusammen, daß sich alles auf wenige große Gesetze bezieht, die sich überall manifestiren.

      558. Was ist das Allgemeine?

      Der einzelne Fall.

      Was ist das Besondere?

      Millionen Fälle.

      [94]559. Die Analogie hat zwei Verirrungen zu fürchten: einmal, sich dem Witz hinzugeben, wo sie in nichts zerfließt, die andere, sich mit Tropen und Gleichnissen zu umhüllen, welches jedoch weniger schädlich ist.

      560. Weder Mythologie noch Legenden sind in der Wissenschaft zu dulden. Lasse man diese den Poeten, die berufen sind, sie zu Nutz und Freude der Welt zu behandeln. Der wissenschaftliche Mann beschränke sich auf die nächste klarste

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