Maximen und Reflexionen. Johann Wolfgang Goethe
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Maximen und Reflexionen - Johann Wolfgang Goethe страница 18
562. Alles, was wir Erfinden, Entdecken im höheren Sinne nennen, ist die bedeutende Ausübung, Bethätigung eines originalen Wahrheitsgefühles, das, im Stillen längst ausgebildet, unversehens, mit Blitzesschnelle zu einer fruchtbaren Erkenntniß führt. Es ist eine aus dem Innern am Äußern sich entwickelnde Offenbarung, die den Menschen seine Gottähnlichkeit vorahnen läßt. Es ist eine Synthese von Welt und Geist, welche von der ewigen Harmonie des Daseins die seligste Versicherung gibt.
563. Der Mensch muß bei dem Glauben verharren, daß das Unbegreifliche begreiflich ist; er würde sonst nicht forschen.
564. Begreiflich ist jedes Besondere, das sich auf irgend [95]eine Weise anwenden läßt. Auf diese Weise kann das Unbegreifliche nützlich werden.
565. Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird. Diese Steigerung des geistigen Vermögens aber gehört einer hochgebildeten Zeit an.
566. Am widerwärtigsten sind die kricklichen Beobachter und grilligen Theoristen; ihre Versuche sind kleinlich und complicirt, ihre Hypothesen abstrus und wunderlich.
567. Es gibt Pedanten, die zugleich Schelme sind, und das sind die allerschlimmsten.
568. Um zu begreifen, daß der Himmel überall blau ist, braucht man nicht um die Welt zu reisen.
569. Das Allgemeine und Besondere fallen zusammen: das Besondere ist das Allgemeine, unter verschiedenen Bedingungen erscheinend.
570. Man braucht nicht alles selbst gesehen noch erlebt zu haben; willst du aber dem andern und seinen Darstellungen vertrauen, so denke, daß du es nun mit dreien zu thun hast: mit dem Gegenstand und zwei Subjecten.
571. Grundeigenschaft der lebendigen Einheit: sich zu trennen, sich zu vereinen, sich in’s Allgemeine zu ergehen, im Besondern zu verharren, sich zu verwandeln, sich zu specificiren und, wie das Lebendige unter tausend Bedingungen sich darthun mag, hervorzutreten und zu verschwinden, zu solidesciren und zu schmelzen, zu erstarren und zu fließen, sich auszudehnen und sich zusammenzuziehen. Weil nun alle diese Wirkungen im gleichen Zeitmoment zugleich vorgehen, so kann alles und jedes zu gleicher Zeit eintreten. Entstehen und Vergehen, Schaffen und Vernichten, Geburt und Tod, Freud’ und Leid, alles wirkt [96]durch einander, in gleichem Sinn und gleicher Maße; deßwegen denn auch das Besonderste, das sich ereignet, immer als Bild und Gleichniß des Allgemeinsten auftritt.
572. Ist das ganze Dasein ein ewiges Trennen und Verbinden, so folgt auch, daß die Menschen im Betrachten des ungeheuren Zustandes auch bald trennen, bald verbinden werden.
573. Als getrennt muß sich darstellen: Physik von Mathematik. Jene muß in einer entschiedenen Unabhängigkeit bestehen und mit allen liebenden, verehrenden, frommen Kräften in die Natur und das heilige Leben derselben einzudringen suchen, ganz unbekümmert, was die Mathematik von ihrer Seite leistet und thut. Diese muß sich dagegen unabhängig von allem Äußern erklären, ihren eigenen großen Geistesgang gehen und sich selber reiner ausbilden, als es geschehen kann, wenn sie wie bisher sich mit dem Vorhandenen abgibt und diesem etwas abzugewinnen oder anzupassen trachtet.
574. In der Naturforschung bedarf es eines kategorischen Imperativs so gut als im Sittlichen; nur bedenke man, daß man dadurch nicht am Ende, sondern erst am Anfang ist.
575. Das Höchste wäre: zu begreifen, daß alles Factische schon Theorie ist. Die Bläue des Himmels offenbart uns das Grundgesetz der Chromatik. Man suche nur nichts hinter den Phänomenen: sie selbst sind die Lehre.
576. In den Wissenschaften ist viel Gewisses, sobald man sich von den Ausnahmen nicht irre machen läßt und die Probleme zu ehren weiß.
577. Wenn ich mich bei’m Urphänomen zuletzt beruhige, so ist es doch auch nur Resignation; aber es bleibt ein großer Unterschied, ob ich mich an den Gränzen der [97]Menschheit resignire oder innerhalb einer hypothetischen Beschränktheit meines bornirten Individuums.
578. Wenn man die Probleme des Aristoteles ansieht, so erstaunt man über die Gabe des Bemerkens und für was alles die Griechen Augen gehabt haben. Nur begehen sie den Fehler der Übereilung, da sie von dem Phänomen unmittelbar zur Erklärung schreiten, wodurch denn ganz unzulängliche theoretische Aussprüche zum Vorschein kommen. Dieses ist jedoch der allgemeine Fehler, der noch heut zu Tage begangen wird.
579. Hypothesen sind Wiegenlieder, womit der Lehrer seine Schüler einlullt; der denkende treue Beobachter lernt immer mehr seine Beschränkung kennen, er sieht: je weiter sich das Wissen ausbreitet, desto mehr Probleme kommen zum Vorschein.
580. Unser Fehler besteht darin, daß wir am Gewissen zweifeln und das Ungewisse fixiren möchten. Meine Maxime bei der Naturforschung ist, das Gewisse festzuhalten und dem Ungewissen aufzupassen.
581. Läßliche Hypothese nenn’ ich eine solche, die man gleichsam schalkhaft aufstellt, um sich von der ernsthaften Natur widerlegen zu lassen.
582. Wie wollte einer als Meister in seinem Fach erscheinen, wenn er nichts Unnützes lehrte!
583. Das Närrische ist, daß jeder glaubt, überliefern zu müssen, was man gewußt zu haben glaubt.
584. Weil zum didaktischen Vortrag Gewißheit verlangt wird, indem der Schüler nichts Unsicheres überliefert haben will, so darf der Lehrer kein Problem stehen lassen und sich etwa in einiger Entfernung da herum bewegen. Gleich muß etwas bestimmt sein (»bepaalt« sagt der [98]Holländer), und nun glaubt man eine Weile, den unbekannten Raum zu besitzen, bis ein anderer die Pfähle wieder ausreißt und sogleich enger oder weiter abermals wieder bepfählt.
585. Lebhafte Frage nach der Ursache, Verwechslung von Ursache und Wirkung, Beruhigung in einer falschen Theorie sind von großer, nicht zu entwickelnder Schädlichkeit.
586. Wenn mancher sich nicht verpflichtet fühlte, das Unwahre zu wiederholen, weil er’s einmal gesagt hat, so wären es ganz andere Leute geworden.
587. Das Falsche hat den Vortheil, daß man immer darüber schwätzen kann; das Wahre muß gleich genutzt werden, sonst ist es nicht da.
588. Wer nicht einsieht, wie das Wahre praktisch erleichtert, mag gern daran mäkeln und häkeln, damit er nur sein irriges mühseliges Treiben einigermaßen beschönigen könne.
589. Die Deutschen, und sie nicht allein, besitzen die Gabe, die Wissenschaften unzugänglich zu machen.
590. Der Engländer ist Meister, das Entdeckte gleich zu nutzen, bis es wieder zu neuer Entdeckung und frischer That führt. Man frage nun, warum sie uns überall voraus sind.
591. Der denkende Mensch hat die wunderliche Eigenschaft, daß er an die Stelle, wo das unaufgelös’te Problem liegt, gerne ein Phantasiebild hinfabelt, das er nicht los werden kann, wenn das Problem auch aufgelös’t und die Wahrheit am Tage ist.
592. Es gehört eine eigene Geisteswendung dazu, um das gestaltlose Wirkliche in seiner eigensten Art zu fassen und es von Hirngespinnsten zu unterscheiden, die sich [99]denn doch auch mit einer gewissen Wirklichkeit lebhaft aufdringen.
593. Bei Betrachtung der Natur im Großen wie im Kleinen hab’ ich unausgesetzt die Frage