Maximen und Reflexionen. Johann Wolfgang Goethe

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Maximen und Reflexionen - Johann Wolfgang Goethe Reclams Universal-Bibliothek

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historisch wird, und daß ihm die Mitlebenden historisch werden, so daß er mit niemanden mehr controvertiren mag noch kann.

      653. Verschiedene Sprüche der Alten, die man sich öfters zu wiederholen pflegt, hatten eine ganz andere Bedeutung, als man ihnen in späteren Zeiten geben möchte.

      654. Das Wort, es solle kein mit der Geometrie Unbekannter, der Geometrie Fremder in die Schule des Philosophen treten, heißt nicht etwa, man solle ein Mathematiker sein, um ein Weltweiser zu werden.

      655. Geometrie ist hier in ihren ersten Elementen gedacht, wie sie uns im Euklid vorliegt, und wie wir sie einen jeden Anfänger beginnen lassen. Alsdann aber ist sie die vollkommenste Vorbereitung, ja Einleitung in die Philosophie.

      656. Wenn der Knabe zu begreifen anfängt, daß einem sichtbaren Puncte ein unsichtbarer vorhergehen müsse, daß der nächste Weg zwischen zwei Puncten schon als Linie gedacht werde, ehe sie mit dem Bleistift auf’s Papier gezogen wird, so fühlt er einen gewissen Stolz, ein Behagen. Und nicht mit Unrecht; denn ihm ist die Quelle alles Denkens aufgeschlossen, Idee und Verwirklichtes, ›potentia et actu‹ ist ihm klar geworden; der Philosoph entdeckt ihm nichts Neues, dem Geometer war von seiner Seite der Grund alles Denkens aufgegangen.

      657. Nehmen wir sodann das bedeutende Wort vor: Erkenne dich selbst, so müssen wir es nicht im ascetischen Sinne auslegen. Es ist keineswegs die Heautognosie unserer modernen Hypochondristen, Humoristen und Heautontimorumenen damit gemeint; sondern es heißt [110]ganz einfach: Gib einigermaßen Acht auf dich selbst, nimm Notiz von dir selbst, damit du gewahr werdest, wie du zu deines Gleichen und der Welt zu stehen kommst. Hiezu bedarf es keiner psychologischen Quälereien; jeder tüchtige Mensch weiß und erfährt, was es heißen soll; es ist ein guter Rath, der einem jeden praktisch zum größten Vortheil gedeiht.

      658. Man denke sich das Große der Alten, vorzüglich der Sokratischen Schule, daß sie Quelle und Richtschnur alles Lebens und Thuns vor Augen stellt, nicht zu leerer Speculation, sondern zu Leben und That auffordert.

      659. Wenn nun unser Schulunterricht immer auf das Alterthum hinweis’t, das Studium der griechischen und lateinischen Sprache fördert, so können wir uns Glück wünschen, daß diese zu einer höheren Cultur so nöthigen Studien niemals rückgängig werden.

      660. Denn wenn wir uns dem Alterthum gegenüber stellen und es ernstlich in der Absicht anschauen, uns daran zu bilden, so gewinnen wir die Empfindung, als ob wir erst eigentlich zu Menschen würden.

      661. Der Schulmann, indem er Lateinisch zu schreiben und zu sprechen versucht, kommt sich höher und vornehmer vor, als er sich in seinem Alltagsleben dünken darf.

      662. Der für dichterische und bildnerische Schöpfungen empfängliche Geist fühlt sich dem Alterthum gegenüber in den anmuthigst-ideellen Naturzustand versetzt, und noch auf den heutigen Tag haben die Homerischen Gesänge die Kraft, uns wenigstens für Augenblicke von der furchtbaren Last zu befreien, welche die Überlieferung von mehrern tausend Jahren auf uns gewälzt hat.

      663. Wie Sokrates den sittlichen Menschen zu sich [111]berief, damit dieser ganz einfach einigermaßen über sich selbst aufgeklärt würde, so traten Plato und Aristoteles gleichfalls als befugte Individuen vor die Natur; der eine, mit Geist und Gemüth sich ihr anzueignen, der andere, mit Forscherblick und Methode sie für sich zu gewinnen. Und so ist denn auch jede Annäherung, die sich uns im Ganzen und Einzelnen an diese dreie möglich macht, das Ereigniß, was wir am freudigsten empfinden und was unsere Bildung zu befördern sich jederzeit kräftig erweis’t.

      664. Um sich aus der gränzenlosen Vielfachheit, Zerstückelung und Verwickelung der modernen Naturlehre wieder in’s Einfache zu retten, muß man sich immer die Frage vorlegen: Wie würde sich Plato gegen die Natur, wie sie uns jetzt in ihrer größeren Mannichfaltigkeit, bei aller gründlichen Einheit, erscheinen mag, benommen haben?

      665. Denn wir glauben überzeugt zu sein, daß wir auf demselben Wege bis zu den letzten Verzweigungen der Erkenntniß organisch gelangen und von diesem Grund aus die Gipfel eines jeden Wissens uns nach und nach aufbauen und befestigen können. Wie uns hiebei die Thätigkeit des Zeitalters fördert und hindert, ist freilich eine Untersuchung, die wir jeden Tag anstellen müssen, wenn wir nicht das Nützliche abweisen und das Schädliche aufnehmen wollen.

      666. Man rühmt das achtzehnte Jahrhundert, daß es sich hauptsächlich mit Analyse abgegeben; dem neunzehnten bleibt nun die Aufgabe, die falschen obwaltenden Synthesen zu entdecken und deren Inhalt auf’s neue zu analysiren.

      667. Es gibt nur zwei wahre Religionen, die eine, die das Heilige, das in und um uns wohnt, ganz formlos, die [112]andere, die es in der schönsten Form anerkennt und anbetet. Alles, was dazwischen liegt, ist Götzendienst.

      668. Es ist nicht zu läugnen, daß der Geist sich durch die Reformation zu befreien suchte; die Aufklärung über griechisches und römisches Alterthum brachte den Wunsch, die Sehnsucht nach einem freieren, anständigeren und geschmackvolleren Leben hervor. Sie wurde aber nicht wenig dadurch begünstigt, daß das Herz in einen gewissen einfachen Naturstand zurückzukehren und die Einbildungskraft sich zu concentriren trachtete.

      669. Aus dem Himmel wurden auf einmal alle Heiligen vertrieben und von einer göttlichen Mutter mit einem zarten Kinde Sinne, Gedanken, Gemüth auf den Erwachsenen, sittlich Wirkenden, ungerecht Leidenden gerichtet, welcher später als Halbgott verklärt, als wirklicher Gott anerkannt und verehrt wurde.

      670. Er stand vor einem Hintergrunde, wo der Schöpfer das Weltall ausgebreitet hatte; von ihm ging eine geistige Wirkung aus, seine Leiden eignete man sich als Beispiel zu, und seine Verklärung war das Pfand für eine ewige Dauer.

      671. So wie der Weihrauch einer Kohle Leben erfrischte, so erfrischet das Gebet die Hoffnungen des Herzens.

      672. Ich bin überzeugt, daß die Bibel immer schöner wird, je mehr man sie versteht, das heißt, je mehr man einsieht und anschaut, daß jedes Wort, das wir allgemein auffassen und im Besondern auf uns anwenden, nach gewissen Umständen, nach Zeit- und Ortsverhältnissen einen eignen, besondern, unmittelbar individuellen Bezug gehabt hat.

      673. Genau besehen, haben wir uns noch alle Tage zu [113]reformiren und gegen andere zu protestiren, wenn auch nicht in religiösem Sinne.

      674. Wir haben das unabweichliche, täglich zu erneuernde, grundernstliche Bestreben, das Wort mit dem Empfundenen, Geschauten, Gedachten, Erfahrenen, Imaginirten, Vernünftigen möglichst unmittelbar zusammentreffend zu erfassen.

      675. Jeder prüfe sich, und er wird finden, daß dieß viel schwerer sei, als man denken möchte; denn leider sind dem Menschen die Worte gewöhnlich Surrogate: er denkt und weiß es meistentheils besser, als er sich ausspricht.

      676. Verharren wir aber in dem Bestreben, das Falsche, Ungehörige, Unzulängliche, was sich in uns und andern entwickeln oder einschleichen könnte, durch Klarheit und Redlichkeit auf das möglichste zu beseitigen!

      677. Mit den Jahren steigern sich die Prüfungen.

      678. Wo ich aufhören muß, sittlich zu sein, habe ich keine Gewalt mehr.

      679. Censur und Preßfreiheit werden immerfort mit einander kämpfen. Censur fordert und übt der Mächtige, Preßfreiheit verlangt der Mindere. Jener will weder in seinen Planen noch seiner Thätigkeit durch vorlautes widersprechendes Wesen gehindert, sondern gehorcht sein; diese wollen ihre Gründe aussprechen, den Ungehorsam zu legitimiren. Dieses wird man überall geltend finden.

      680. Doch muß man auch hier bemerken, daß der Schwächere, der leidende Theil gleichfalls auf seine Weise die Preßfreiheit zu unterdrücken sucht, und zwar

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