Maximen und Reflexionen. Johann Wolfgang Goethe

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Maximen und Reflexionen - Johann Wolfgang Goethe Reclams Universal-Bibliothek

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Der Aberglaube gehört zum Wesen des Menschen und flüchtet sich, wenn man ihn ganz und gar zu verdrängen denkt, in die wunderlichsten Ecken und Winkel, von wo er auf einmal, wenn er einigermaßen sicher zu sein glaubt, wieder hervortritt.

      501. Wir würden gar vieles besser kennen, wenn wir es nicht zu genau erkennen wollten. Wird uns doch ein [85]Gegenstand unter einem Winkel von fünfundvierzig Graden erst faßlich.

      502. Mikroskope und Fernröhre verwirren eigentlich den reinen Menschensinn.

      503. Ich schweige zu vielem still; denn ich mag die Menschen nicht irre machen und bin wohl zufrieden, wenn sie sich freuen da, wo ich mich ärgere.

      504. Alles, was unsern Geist befreit, ohne uns die Herrschaft über uns selbst zu geben, ist verderblich.

      505. Das Was des Kunstwerks interessirt die Menschen mehr als das Wie; jenes können sie einzeln ergreifen, dieses im Ganzen nicht fassen. Daher kommt das Herausheben von Stellen, wobei zuletzt, wenn man wohl aufmerkt, die Wirkung der Totalität auch nicht ausbleibt, aber jedem unbewußt.

      506. Die Frage: »Woher hat’s der Dichter?« geht auch nur auf’s Was; vom Wie erfährt dabei niemand etwas.

      507. Einbildungskraft wird nur durch Kunst, besonders durch Poesie geregelt. Es ist nichts fürchterlicher als Einbildungskraft ohne Geschmack.

      508. Das Manierirte ist ein verfehltes Ideelle, ein subjectivirtes Ideelle; daher fehlt ihm das Geistreiche nicht leicht.

      509. Der Philolog ist angewiesen auf die Congruenz des geschrieben Überlieferten. Ein Manuscript liegt zum Grunde, es finden sich in demselben wirkliche Lücken, Schreibfehler, die eine Lücke im Sinne machen, und was sonst alles an einem Manuscript zu tadeln sein mag. Nun findet sich eine zweite Abschrift, eine dritte; die Vergleichung derselben bewirkt immer mehr, das Verständige und Vernünftige der Überlieferung gewahr zu werden. Ja er geht weiter und verlangt von seinem innern Sinn, daß derselbe ohne [86]äußere Hülfsmittel die Congruenz des Abgehandelten immer mehr zu begreifen und darzustellen wisse. Weil nun hierzu ein besonderer Tact, eine besondere Vertiefung in seinen abgeschiedenen Autor nöthig und ein gewisser Grad von Erfindungskraft gefordert wird, so kann man dem Philologen nicht verdenken, wenn er sich auch ein Urtheil bei Geschmackssachen zutraut, welches ihm jedoch nicht immer gelingen wird.

      510. Der Dichter ist angewiesen auf Darstellung. Das Höchste derselben ist, wenn sie mit der Wirklichkeit wetteifert, das heißt, wenn ihre Schilderungen durch den Geist dergestalt lebendig sind, daß sie als gegenwärtig für jedermann gelten können. Auf ihrem höchsten Gipfel scheint die Poesie ganz äußerlich; je mehr sie sich in’s Innere zurückzieht, ist sie auf dem Wege zu sinken. – Diejenige, die nur das Innere darstellt, ohne es durch ein Äußeres zu verkörpern, oder ohne das Äußere durch das Innere durchfühlen zu lassen, sind beides die letzten Stufen, von welchen aus sie in’s gemeine Leben hineintritt.

      511. Die Redekunst ist angewiesen auf alle Vortheile der Poesie, auf alle ihre Rechte; sie bemächtigt sich derselben und mißbraucht sie, um gewisse äußere, sittliche oder unsittliche, augenblickliche Vortheile im bürgerlichen Leben zu erreichen.

      512. Literatur ist das Fragment der Fragmente; das Wenigste dessen, was geschah und gesprochen worden, ward geschrieben, vom Geschriebenen ist das Wenigste übrig geblieben.

      513. In natürlicher Wahrheit und Großheit, obgleich wild und unbehaglich ausgebildetes Talent ist Lord Byron, und deßwegen kaum ein anderes ihm vergleichbar.

      [87]514. Eigentlichster Werth der sogenannten Volkslieder ist der, daß ihre Motive unmittelbar von der Natur genommen sind. Dieses Vortheils aber könnte der gebildete Dichter sich auch bedienen, wenn er es verstünde.

      515. Hiebei aber haben jene immer das voraus, daß natürliche Menschen sich besser auf den Lakonismus verstehen als eigentlich Gebildete.

      516. Shakespeare ist für aufkeimende Talente gefährlich zu lesen; er nöthigt sie, ihn zu reproduciren, und sie bilden sich ein, sich selbst zu produciren.

      517. Über Geschichte kann niemand urtheilen, als wer an sich selbst Geschichte erlebt hat. So geht es ganzen Nationen. Die Deutschen können erst über Literatur urtheilen, seitdem sie selbst eine Literatur haben.

      518. Man ist nur eigentlich lebendig, wenn man sich des Wohlwollens andrer freut.

      519. Frömmigkeit ist kein Zweck, sondern ein Mittel, um durch die reinste Gemüthsruhe zur höchsten Cultur zu gelangen.

      520. Deßwegen läßt sich bemerken, daß diejenigen, welche Frömmigkeit als Zweck und Ziel aufstecken, meistens Heuchler werden.

      521. »Wenn man alt ist, muß man mehr thun, als da man jung war.«

      522. Erfüllte Pflicht empfindet sich immer noch als Schuld, weil man sich nie ganz genug gethan.

      523. Die Mängel erkennt nur der Lieblose; deßhalb, um sie einzusehen, muß man auch lieblos werden, aber nicht mehr, als hiezu nöthig ist.

      524. Das höchste Glück ist das, welches unsere Mängel verbessert und unsere Fehler ausgleicht.

      [88]525. Kannst du lesen, so sollst du verstehen; kannst du schreiben, so mußt du etwas wissen; kannst du glauben, so sollst du begreifen; wenn du begehrst, wirst du sollen; wenn du forderst, wirst du nicht erlangen, und wenn du erfahren bist, sollst du nutzen.

      526. Man erkennt niemand an als den, der uns nutzt. Wir erkennen den Fürsten an, weil wir unter seiner Firma den Besitz gesichert sehen. Wir gewärtigen uns von ihm Schutz gegen äußere und innere widerwärtige Verhältnisse.

      527. Der Bach ist dem Müller befreundet, dem er nutzt, und er stürzt gern über die Räder; was hilft es ihm, gleichgültig durch’s Thal hinzuschleichen?

      528. Wer sich mit reiner Erfahrung begnügt und darnach handelt, der hat Wahres genug. Das heranwachsende Kind ist weise in diesem Sinne.

      529. Die Theorie an und für sich ist nichts nütze, als in so fern sie uns an den Zusammenhang der Erscheinungen glauben macht.

      530. Alles Abstracte wird durch Anwendung dem Menschenverstand genähert, und so gelangt der Menschenverstand durch Handeln und Beobachten zur Abstraction.

      531. Wer zu viel verlangt, wer sich am Verwickelten erfreut, der ist den Verirrungen ausgesetzt.

      532. Nach Analogien denken ist nicht zu schelten: die Analogie hat den Vortheil, daß sie nicht abschließt und eigentlich nichts Letztes will; dagegen die Induction verderblich ist, die einen vorgesetzten Zweck im Auge trägt und, auf denselben losarbeitend, Falsches und Wahres mit sich fortreißt.

      533. Gewöhnliches Anschauen, richtige Ansicht der irdischen Dinge ist ein Erbtheil des allgemeinen [89]Menschenverstandes, reines Anschauen des Äußern und Innern ist sehr selten.

      534. Es äußert sich jenes im praktischen Sinn, im unmittelbaren Handeln; dieses symbolisch, vorzüglich durch Mathematik, in Zahlen und Formeln, durch Rede, uranfänglich, tropisch, als Poesie des Genies, als Sprichwörtlichkeit des Menschenverstandes.

      535. Das Abwesende wirkt auf uns durch Überlieferung. Die gewöhnliche ist historisch zu nennen; eine höhere, der Einbildungskraft verwandte, ist mythisch. Sucht man hinter dieser noch etwas Drittes, irgend eine Bedeutung, so verwandelt sie sich in Mystik. Auch wird sie leicht sentimental, so daß wir uns nur, was gemüthlich ist, aneignen.

      536.

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