Demokratietheorien. Rieke Trimcev
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Bei der Auswahl der Quellentexte durch die Herausgeber*innen war – wie immer bei Auswahlentscheidungen – eine gewisse Willkür nicht zu vermeiden, so dass jede*r Leser*in den einen oder anderen Text vermissen wird. Soweit es möglich war, haben die Autor*innen deshalb versucht, in ihren Interpretationstexten auch auf einige der in diesem Buch fehlenden demokratietheoretischen Ansätze Bezug zu nehmen. Bei der Zusammenstellung der Quellentexte haben wir uns bemüht, zusammenhängende Textabschnitte auszuwählen. War dies nicht möglich, wurden Ausschnitte aus größeren Textpassagen so zusammengestellt, dass das Typische und Relevante erkennbar wird. Auf die Anmerkungen, die in den Originaltexten vorhanden sind, haben wir dabei verzichtet; auch in den Interpretationen wurden die Anmerkungen und Literaturhinweise so knapp wie möglich gehalten.
Die für die Quellentexte ausgewählten Autor*innen haben das Nachdenken über Demokratie auf vier unterschiedliche Weisen bereichert: Die meisten Autor*innen der hier versammelten Quellentexte haben mit ihrem Werk explizit zur Demokratietheorie beigetragen, indem sie versuchten oder heute weiterhin versuchen, Grundsätze der Demokratie zu begründen, einen kritischen Blick auf real existierende Demokratien zu bewahren und/oder Chancen der Weiterentwicklung der Demokratie auszuloten (z. B. Jean-Jacques Rousseau, Max Weber, Ernst Fraenkel, Jürgen Habermas, Pierre Rosanvallon). Einer zweiten Gruppe von Autor*innen ging es in erster Linie darum, unter ausdrücklicher Berufung auf die ‚Demokratie‘ weitreichende politische Reformen oder gar radikale gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen (z. B. Baruch de Spinoza, Karl Marx, Abraham Lincoln, Achille Mbembe, Chantal Mouffe). Autoren einer dritten Gruppe beschäftigten sich mit Fragen und Problemen der Demokratie, ohne die Demokratie zu befürworten (z. B. Platon, Aristoteles, Thomas Hobbes) oder sprechen sich für eine Diktatur aus (z. B. Carl Schmitt). Die Autor*innen einer vierten Gruppe sind zwar nicht als Demokratietheoretiker*innen im engen Sinne zu bezeichnen, diskutierten aber in ihren Schriften Grundsätze und -kategorien, die für die moderne Demokratietheorie eine zentrale Bedeutung gewonnen haben, wie z. B. die Ideen der Mischverfassung (z. B. Cicero), der Gewaltenteilung (z. B. Charles-Louis de Montesquieu), des Großflächenstaates (z. B. die Federalists), der Repräsentation (z. B. Burke), der Frauenrechte (z. B. John Stuart Mill), der Rechtsstaatlichkeit (z. B. John Locke), des Parlamentarismus (z. B. Max Weber), der sozialen Gerechtigkeit (z. B. John Rawls) oder der Geschlechtergerechtigkeit (z. B. Judith Butler). Mit dieser Auswahl werden neben den Verfechter*innen der Demokratie daher auch solche Klassiker der politischen Ideengeschichte berücksichtigt, die der Demokratie im Verständnis ihrer jeweiligen Zeit zwar kritisch gegenüberstanden oder deren politische Theorie nur am Rande auch Fragen der Demokratie thematisiert, die aber dennoch zu Wegbereiter*innen der modernen Demokratie oder gegenwärtigen Demokratietheorie gezählt werden können.
Von anderen Einführungen in die Demokratietheorie unterscheidet sich das vorliegende Buch, indem es bewusst eine Brücke zwischen Politikwissenschaft und politischer Bildung, zwischen Demokratietheorie und Demokratiepädagogik schlägt und sich an Schüler*innen, Studierende und Praktizierende der politischen Bildung gleichermaßen richtet. Ein solcher Brückenschlag ist für die Politikwissenschaft der Bundesrepublik gute disziplinäre Tradition. Doch warum sollte die ideengeschichtliche Entwicklung der Theorien über die Demokratie überhaupt ein Thema für die politische Bildung sein? Die Antwort lautet, dass demokratietheoretisches Geschichtsbewusstsein in der Gegenwart zu Möglichkeitsbewusstsein wird: Wer eine gewisse Kenntnis der Traditionen und Vielfalt des politischen Denkens besitzt, wer die zentralen Kategorien demokratietheoretischen Denkens identifizieren und Unterschiede in der normativen Bewertung erkennen kann, wird viele aktuelle politische Ereignisse und Positionen nicht nur besser verstehen und einordnen können, sondern auch demokratiepolitische Alternativen formulieren können.
Die Stabilität einer Demokratie hängt nicht zuletzt davon ab, dass die Bürger*innen die Demokratie sowie ihre eigene Rolle darin angemessen verstehen. Für die deutschen Politikwissenschaftler der ersten Stunde, die nach 1945 die politische Bildung in Schule, Jugend- und Erwachsenenbildung und das Fach Politikwissenschaft an den deutschen Universitäten aufbauten, stand die Einsicht in diese Bestandsvoraussetzung der Demokratie im Zentrum ihrer Bemühungen. Sie wird in einer Aussage von Ernst Fraenkel, einem dieser Gründungsväter der bundesdeutschen Politikwissenschaft, deutlich: „Die Demokratie ist nicht nur die komplizierteste, sie ist auch die gefährdetste aller Regierungsmethoden. Ihr Funktionieren setzt voraus […] die Einsicht in das Funktionieren der Bewegungsgesetze des demokratischen Willensbildungsprozesses, damit nicht die Demokratie an einer Todesursache zugrunde geht, die sie mehr als jede andere Regierungsmethode bedroht: dem Selbstmord.“1 Mit Referenz auf seinen italienischen Kollegen Giovanni Sartori hat der 2012 verstorbene Hamburger Politikwissenschaftler Michael Th. Greven diese Einsicht als ‚Sartori-Kriterium‘ bündig auf den Punkt gebracht: Die Demokratie könne „nicht fortbestehen, wenn ihre Grundsätze und Mechanismen den geistigen Horizont des Normalbürgers übersteigen“2. Von diesem bildungspolitischen Impuls getragen, verstand sich die Politikwissenschaft der frühen Bundesrepublik im Wesentlichen als eine Demokratiewissenschaft mit der dreifachen Aufgabe der Demokratiebegründung (normative Dimension), der Demokratieforschung (empirische Dimension) und der Demokratielehre (pädagogische Dimension).3 Die Politikwissenschaft als Demokratiewissenschaft war sich bewusst, dass Unverständnis und Unkenntnis gegenüber der Demokratie auf diese negativ zurückwirken und zu Veränderungen führen können, die sich unkontrolliert vollziehen und nicht gewollt sind.
Häufig existieren utopische und idealisierte Vorstellungen von Demokratie und überzogene Erwartungen und Anforderungen bezüglich der Leistungsfähigkeit eines demokratischen Systems, die sich weit von der Realität entfernt haben und vor denen die alltägliche Praxis demokratischer Wirklichkeit unscheinbar, wenn nicht sogar abstoßend wirkt. Auch wenn diese Wirklichkeit vielfach auch aus Sicht angemessener Standards kritikwürdig erscheint, produzieren unangemessene utopische und idealisierte Vorstellungen Enttäuschungen über Teilaspekte real existierender Demokratien, die eine emotionale Ablehnung auslösen und zu einer generellen Demokratieskepsis und -verdrossenheit führen können. Die hohe Kunst der demokratischen Urteilsfähigkeit besteht aber gerade darin, zwischen den beiden Polen eines demokratischen Utopismus und eines undemokratischen Zynismus klug hindurch zu navigieren. Das heißt, Missstände der Demokratie offen und schonungslos zu benennen und zugleich die Demokratie und die in ihr handelnden Personen nicht an unangemessenen Maßstäben zu messen und so vermeintlich scheitern zu lassen. Eine Auseinandersetzung mit der Geschichte der über, für und gegen die Demokratie vorgebrachten Argumente kann den Weg zu einer solchen Balance unterstützen. Denn sie zeigt, dass die Wahl niemals jene zwischen ‚entweder‘ und ‚oder‘, zwischen Ideal und Ernüchterung ist. Nicht nur gab und gibt es konkurrierende Ideale demokratischer Regierung, deren Halbwertszeit sich offensichtlich nicht an ihrer vollumfänglichen Umsetzung bemessen hat – gerade von den „Idealist*innen“ unter den Demokratietheoretiker*innen bleibt viel für eine produktive und differenzierte Kritik an zeitgenössischen Missständen zu lernen. Es zeigt sich auch, dass selbst dezidierte Demokratiekritik nicht neu ist, und sich stets an ihrer argumentativen Begründung wird messen lassen müssen.