Demokratietheorien. Rieke Trimcev
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Im Verlauf des Peloponnesischen Krieges (431-404 v. Chr.) verbreitete sich eine allgemeine Unsicherheit über die Umgangsformen und die Institutionen der athenischen Polis. Die seitherigen Gepflogenheiten des politischen Lebens, die lange Zeit nicht weiter hinterfragten Selbstverständlichkeiten, die eingespielten Gewohnheiten, selbst die geltenden Gesetze (nomoi) wurden infrage gestellt und relativiert. Um 430 v. Chr. grassierte in Athen die Pest, der auch Perikles (ca. 500-429 v. Chr.) zum Opfer fiel. Seine Rolle als „Volksführer“ übernahmen Epigonen – von Kleon über Kritias bis Alkibiades –, die weniger das Wohl der Bürgerschaft als ihre eigenen Machtinteressen im Auge hatten. Ergebnis war die Zerrüttung der Polis und die schließliche Niederlage Athens gegen Sparta. Das Vertrauen in die integrierende und ausgleichende Kraft des demokratisch herbeigeführten Gesetzes schwand. Die frühere Geltung und Bedeutung der Polis war erschüttert. Eine allgemeine „Politikverdrossenheit“ breitete sich aus. Die Bürger zweifelten am Sinn und Zweck der politischen Beteiligung. Innerhalb von nur acht Jahren erlebte Athen eine viermalige Verfassungsänderung, die den ohnehin bereits virulenten Zweifeln an der „Natürlichkeit“ des Gesetzes (nomos) Auftrieb und neue Nahrung gab. 411/10 v. Chr. wurde die Demokratie beseitigt und mit dem Rat der Vierhundert eine Oligarchie errichtet. Dieser folgte zwar die Restitution der Demokratie, die aber mit der Kapitulation Athens (404 v. Chr.) der Tyrannis der Dreißig und der Zehn wich, bis schließlich 403 v. Chr. das Volk wieder die Macht ergriff und alles durch von ihm dominierte Abstimmungen und Gerichtshöfe verwaltete. Zwar wurde die Demokratie damit wiederhergestellt, doch wollte alsbald keiner mehr in die Volksversammlung gehen, weshalb man nach dem Zeugnis des Aristoteles „alle möglichen Listen“ ersann, „um die Menge zur beschließenden Abstimmung zu locken“.9 So führte man wieder Diäten für die Übernahme von Mandaten und 392 v. Chr. endlich ein Tagegeld für den Besuch der Volksversammlung ein, das zunächst einen Obolus betrug, alsbald aber auf zwei und schließlich auf drei Obolen erhöht wurde.
Damit waren aber die Ursachen der Krise und des schwindenden Engagements nicht beseitigt, sondern nur die Symptome angegangen worden. Die Philosophie konnte sich mit solch oberflächlichen Heilmethoden nicht begnügen. Sie musste gründlichere Untersuchungen anstellen, sich über den Sinn und Zweck des individuellen und politischen Lebens verständigen, die Ursachen des Unfriedens und des Sittenverfalls analysieren und die potenziellen Gegenmittel thematisieren. Welche Tugenden und Institutionen waren nötig, um das städtische Leben in vernünftige Bahnen zurückzulenken? Welche Lebensweise, welche Umgangsformen, welche Sitten und Normen waren erforderlich, um zu Frieden und Eintracht zurückzufinden? Wie konnte man sie hervor- und den Menschen nahebringen? Sind Werte und Normen überhaupt lehrbar? Kann man die Bürger zu einem tugendhaften und vernünftigen Leben erziehen? Was ist der Mensch, was ist seine Bestimmung? Welches sind die Institutionen einer wohlgeordneten Polis? Wie werden sie hervorgebracht und vor dem Zerfall geschützt? – Mit diesen Fragen hatten sich nunmehr die Weisen auseinanderzusetzen. Sie stehen im Zentrum der politischen Philosophie der Sophisten sowie ihrer Gegner und Kritiker Sokrates, Platon und Aristoteles. Unzufrieden mit den Verhältnissen in der Stadt, zweifelnd an den überkommenen Sitten, machten sich die Intellektuellen auf die Suche nach dem Bild einer besseren Polis, nach einem neuen Paradigma für die Politik. Dabei entwickelten sie politikphilosophische Einsichten, die für die Folgezeit mustergültig wurden und auch heute noch die Demokratietheorie stimulieren.
Drei Fragenkomplexe schälten sich als besonders dringlich heraus: 1. Wie konnte man einen Maßstab finden, mit dessen Hilfe sich die Wissensbestände (epistéme) ordnen und stabilisieren, mit dem sich wahre Erkenntnisse von bloßen Meinungen (dóxa) unterscheiden ließen? 2. Welche pädagogischen Vorkehrungen konnte man treffen, um die Menschen zu einem tugendhaften Handeln und zur politischen Beteiligung zu motivieren, sie zu Sittlichkeit und Anstand zu erziehen und zu einem glücklichen und zufriedenen Leben zu befähigen? 3. Welche Institutionen waren erforderlich, um den Frieden zu sichern, die Polis zu restituieren und vor dem Zerfall zu schützen?
Die griechische Philosophie, die zu Beginn des 6. Jahrhunderts in Ionien entstand, hatte sich ursprünglich mit dem Kosmos und der Natur und nur indirekt mit den Problemen des menschlichen Zusammenlebens beschäftigt. Kritische Reflexionen auf die soziale und politische Lage blieben zunächst der Lyrik und der Tragödie vorbehalten.10 Die ersten Philosophen, die sich eingehend mit den menschlichen und den politischen Angelegenheiten befassten, waren die Sophisten (Protagoras, Gorgias u.a.), denen die Kontingenz und Veränderbarkeit der Verfassungen und Gesetze bereits früh bewusst und zum zentralen theoretischen Problem wurde. Sie waren in der Regel Anhänger der Demokratie und überzeugt davon, dass sich „Tugend“ oder „Tüchtigkeit“ (areté) lehren lasse. Sie zogen deshalb als Lehrer durch die Lande, um den Kindern wohlhabender Familien gegen Entgelt die Prinzipien eines gelingenden, eines ehrenhaften und erfolgreichen Lebens beizubringen, sie in Rhetorik und praktischer Klugheit (phronesis) auszubilden, damit sie sich sowohl in den eigenen Angelegenheiten als auch im öffentlichen Leben bewähren, ihr Haus möglichst gut verwalten und in den Belangen der Stadt mithandeln und mitreden konnten (vgl. Platon: Protagoras 319 a). Ihr Ziel war es, ihren Schülern angesichts der Unwägbarkeiten der politischen Praxis einen neuen Lebenssinn und eine neue Orientierung zu vermitteln. Leider sind ihre Schriften verschollen und nur wenige Fragmente (vor allem durch ihren Kritiker Platon) überliefert.
Als ihr philosophischer Gegner profilierte sich Sokrates (469-399 v. Chr.), der den Wahrheits- und Werterelativismus der Sophisten attackierte und sich bemühte, die sophistische Kunst und Rhetorik als Dilettantismus, als sinnloses und leerlaufendes Können zu entlarven. Auch er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die jungen Leute zum Nachdenken über die Prinzipien des guten Lebens zu inspirieren. Anders als seine philosophischen Rivalen ließ er sich dafür aber nicht entlohnen und erhob keinen Anspruch, sie zu erfolgreichen Praktikern zu erziehen. Vielmehr wollte er sie den Alltäglichkeiten gerade entfremden, indem er sie zu kritischen Reflexionen über die Grundsätze der Ethik und der Politik und über die Voraussetzungen und Formen einer rationalen Lebensführung anhielt. Er pflegte auf dem Marktplatz zu disputieren und seine Mitbürger zum Nachdenken über ihre Pflichten in den unterschiedlichsten Situationen anzuregen. Von ihm lernten sie, ihre vorgefassten Meinungen zu hinterfragen und alle eingespielten Selbstverständlichkeiten des praktischen Lebens in Zweifel zu ziehen. Von ihm erfuhren sie, dass Tugend und Anstand, dass Sittlichkeit nicht lehrbar sei, dass jeder Einzelne sie für sich selbst erringen müsse durch die bedingungslose Hingabe an die Liebe zum Wissen (philo sophia), durch eigene Erfahrung und durch die unermüdliche Suche nach dem Guten, Wahren, Richtigen und Schönen. Am Ende wurde er jedoch gerade von der demokratischen Polis wegen Missachtung der Götter und Verführung der Jugend angeklagt und 399 v. Chr. zum Tode verurteilt.
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