Janowitz. Rolf Schneider
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Er hatte es ihr zu verstehen gegeben, in seiner Art, mit sanften Berührungen und ausführlichen Briefen. Sie schien nicht unbeeindruckt. Wem also neigte sie mehr zu, ihm oder Kraus? Rilke wusste es nicht, und dies ärgerte ihn. Noch mehr ärgerte ihn, dass er bei Sidonie einen Wettbewerber hatte, der ihm womöglich überlegen war. Gab der Umstand, dass er selbst jetzt nach Beneschau in einer Kutsche fahren musste statt mit Sidonie in deren Automobil, womöglich ein Hinweis? Oder war Sidonies Automobil bloß defekt? Solche Maschinen, das wusste er von Prinzessin Marie, verhielten sich überaus launisch.
Es begann zu regnen. Tropfen fielen auf die Überspannung und erzeugten ein Trommelgeräusch. Der Kutscher rief dem Pferd etwas zu und ließ dazu seine Peitsche schnalzen.
Rilke dachte an Kraus. Der Mann besaß einen scharfen jüdischen Verstand, für den er auch berühmt war. Seine Prosa war gelenkig, doch fehlte ihr jene Behutsamkeit, die ihm, Rilke, im Übermaß zur Verfügung stand. Worauf würde sich Sidie lieber einlassen? Sie war eine Frau, und Frauen verlangten nach Behutsamkeit, auch bei ihren Lektüren.
Die Kutsche fuhr durch Beneschau. Der Regen hatte aufgehört, Rilke bat den Kutscher zu halten. Er sprang aus dem Wagen und warf am Straßenrand seine drei Briefe in einen Postkasten. Dann stieg er wieder ein. Die Kutsche fuhr weiter, bis zu dem Haus mit der Ordination des Zahnarztes Václav Poláček.
Rilke war jetzt fest entschlossen, die Konkurrenz mit Karl Kraus durchzustehen.
Seit mehreren Jahren ließ sich Karl von Nádherný die Londoner Zeitung The Times schicken. Sie traf in Janowitz mit Verspätung ein, Charlie hatte da die wichtigen Neuigkeiten bereits den Prager und Wiener Blättern entnommen, die er sich außerdem hielt. In der Times überflog er die Wirtschaftsmeldungen, die ihn und die österreichischen Regionen selten betrafen, hauptsächlich bezog er das Blatt für May-May, seine einstige Erzieherin.
Die las The Times am späten Vormittag, unmittelbar nach deren Eintreffen. Sie las in der Bibliothek, gewöhnlich in Charlies Anwesenheit, der seinerseits in die Neue Freie Presse aus Wien vertieft war. So auch jetzt. Wie üblich suchte sie zunächst die Obituaries, die ausführlichen Nachrufe also, in denen es um Personen ging, die ihr völlig unbekannt waren. Danach las sie die Gesellschaftsnachrichten.
Auf der zweiten Seite entdeckte sie eine Überschrift betreffend die Regierung in Wien. In dem zugehörigen Artikel ging es um den Mord in Sarajevo, um Diplomatie, um Russland, Deutschland, Serbien und einen möglichen Krieg, in den auch England hineingezogen werden könnte. May-May las es und wusste nicht, ob ein solcher Krieg, wenn er denn stattfand, unmittelbare Folgen für ihre Person haben könnte, schließlich besaß sie weiterhin die britische Staatsbürgerschaft.
Sie fragte Charlie, was er von der Sache halte. Wie üblich sprachen die beiden miteinander englisch. Charlie, rauchende Tabakspfeife im Mund, ließ seine Zeitung sinken und sagte, nach seiner Kenntnis sei das Vereinigte Königreich von dem Konflikt nicht unmittelbar betroffen. May-May wollte wissen, ob man da sicher sein könne.
Sicher, sagte Charlie, sei in der großen Politik gar nichts.
Wie es denn überhaupt zu dem Konflikt gekommen sei? Was das Attentat auf den Kronprinzen damit zu tun habe?
Charlie nahm die Pfeife aus dem Mund, legte sie in einen kristallenen Aschenbecher und begann mit einer ausführlichen Erklärung.
Das Kaiserreich Österreich-Ungarn sei, wie May-May wahrscheinlich wisse, ein Vielvölkerstaat. Das sei seit Langem so, und trotz aller Schwierigkeiten und Auseinandersetzungen habe es sich in dieser Form halten können. Gleich hinter Ungarn beginne der Balkan. Das sei eine mehr als unruhige und komplizierte Gegend, spätestens seit die osmanischen Türken sich von dort völlig zurückgezogen hätten. Immerfort bloß Intrigen, Spannungen, Religionsstreitigkeiten, Verschwörungen, Bürgerkrieg. Um an der Südflanke seines Reiches Frieden zu schaffen, habe Österreich vor ein paar Jahren die Herrschaft über die Territorien Bosnien und Herzegowina angetreten. Der Friede habe auch gehalten, aber er habe gefährliche Gegner erbracht, voran das Königreich Serbien. Sarajevo, Ort des Attentats, sei die Hauptstadt von Bosnien. Dort habe der Erzherzog die Ansprüche der Krone repräsentieren sollen. Mit seiner Frau sei er im offenen Wagen durch die Stadt gefahren, was vielleicht etwas leichtsinnig gewesen sei, denn an einer Straßenecke seien die beiden dann heimtückisch niedergeschossen worden. Das habe wohl eine Art Fanal des serbischen Widerstands bedeuten wollen. Der Attentäter sei ein Verschwörer, seine Hintermänner säßen im Königreich Serbien und würden von der dortigen Regierung gedeckt. Wien warte dringlich auf eine Erklärung aus Belgrad, auf eine Entschuldigung, auf die Verfolgung und Bestrafung aller Verschwörer. Soviel er wisse, werde die Wiener Regierung dies demnächst fordern.
Was denn mit England sei, wollte May-May wissen.
Serbien und Russland seien verbündet, sagte Charlie. Russland wiederum sei verbündet außer mit Frankreich auch mit England.
Und?
Falls Serbien militärisch angegriffen werde, träten diese Bündnisse in Kraft. Gegner von Russland sei neben Österreich-Ungarn noch das mit diesem verbündete und sehr mächtige Deutschland.
Ob Serbien tatsächlich angegriffen werde?
Niemand wisse das. In Wien gebe es Kräfte, die einen militärischen Angriff unbedingt wollten. Sofern er, Charlie, die Zeitungen richtig lese, gebe es ähnliche Kräfte auch in Berlin.
Ein großer Krieg also?
Der wäre die Folge.
What will happen to me?, fragte aufgeregt May-May. Was dann aus ihr würde?
Man werde schon eine Lösung finden, sagte Charlie. I’m sure we’ll find a solution.
Er nahm seine Tabakspfeife aus dem kristallenen Aschenbecher und entzündete sie neu. Er rauchte, griff nach seiner Zeitung, der Neuen Freien Presse, und las darin weiter. Dass er aktiv an einem möglichen Krieg teilnehmen müsse, war unwahrscheinlich, wusste May-May. Als er früher zu einer Offiziersausbildung hatte antreten wollen, war er ausgemustert worden, aus gesundheitlichen Gründen.
Am einem der folgenden Abende las Rilke aus seinen Arbeiten. Sidonie hatte ihn mehrmals darum gebeten. Zunächst hatte er sich etwas geziert und erwähnte körperliches Unwohlsein in der Folge seiner Zahnbehandlung. Inzwischen trug er seit Tagen eine funkelnde Goldkrone in seinem Gebiss, die, wenn er den Mund öffnete, so beim Verzehr seines Körnerbreis, auch zu erkennen war.
Als Sidonie Rilke gebeten hatte, war Kraus zugegen gewesen. Er hatte nichts gesagt, wiewohl ihn die Sache ärgerte. Selber hatte er eine öffentliche Lesung des Dichters schon erlebt, vor langer Zeit, in Wien, Sidonie kannte er damals noch nicht. Seine Erinnerung an jenen Abend war diffus, er wusste bloß, dass Rilke zu leise gesprochen hatte. Jetzt konnte er herausfinden, ob sich daran etwas geändert hatte. Wenn er selbst seine Texte vor Zuhörern sprach, geschah dies mit schneidend scharfer und für jedermann verständlicher Stimme. Er tat das regelmäßig.
Draußen im Park war Dämmerung. Das Dienstpersonal hatte Kerzen aufgestellt und angezündet. Die Zuhörer waren außer Kraus, Sidonie, Charlie und May-May Rilkes Zahnarzt aus Beneschau mit seiner Frau, einer hochbusigen Blondine, außerdem Sidonies Freundin Pejačevič, die erst diesen Nachmittag eingetroffen war, Kraus hatte sie zuvor nie gesehen. Rilke trug seinen