Janowitz. Rolf Schneider
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Wir sind uns in Wien begegnet.
Sehen Sie mir nach, wenn ich es vergessen habe? Ich treffe zahllose Menschen.
Ich auch.
Behalten Sie alle im Gedächtnis?
Alle.
Ich weiß nicht, ob ich Sie darum beneiden soll. Das Vergessen kann eine Gnade sein.
Worauf Kraus entgegnen wollte, dergleichen sei die übliche Behauptung von Leuten mit mangelhaftem Erinnerungsvermögen. Er unterließ es. Rilke nahm seine linke Hand herab. Kraus sah, dass die Wange des Dichters geschwollen war, es flößte ihm etwas Mitleid ein. Zudem mochte er jetzt, in Sidis Anwesenheit, Rilke nicht kränken.
Er kannte sie nun seit fast einem Jahr. Die erste Begegnung hatte im pompösen Plüsch des Wiener Café Imperial stattgefunden, wo er sich mit Thun getroffen hatte, einem guten Bekannten, der mit vollem Namen Maximilian Graf von Thun und Hohenstein hieß, aus der böhmischen Linie des Hauses. Im Widerspruch zu den Gepflogenheiten seiner Familie war er nicht Offizier geworden, sondern hatte Medizin studiert und praktizierte als Sportarzt und Spezialist für Bewegungsschäden. Er vertrat die Theorie, die ursprüngliche Gangart des Menschen sei jene auf allen vieren, was er auch als gymnastische Therapie zu verordnen pflegte, mit unterschiedlichem Erfolg. Außerdem hatte er die Absicht, sich zu Studienzwecken Affen zuzulegen, was Kraus höchst possierlich fand.
Max war weitläufig verwandt mit den Nádhernýs, wovon Kraus anfangs nichts wusste. Max und Sidonie waren an jenem Nachmittag verabredet, wovon Kraus gleichfalls nichts wusste. Er sah, dass eine groß gewachsene, sehr elegante und ungewöhnlich schöne Frau an ihren Tisch trat, wo sie von Max überschwänglich begrüßt wurde, ehe er sie mit Kraus bekannt machte. Kraus bemerkte, dass die Baronesse ihn unentwegt anstarrte, in einer sonderbaren Mischung aus Erstaunen und Erschrecken. Später würde er erfahren, dass er sie an ihren soeben aus dem Leben geschiedenen Bruder erinnerte. Sie würde ihm fotografische Bilder von Johannes zeigen, auf denen er kaum Ähnlichkeiten mit sich selbst entdecken konnte, schon da Johannes groß gewachsen war, größer noch als Sidonie und ihr Zwillingsbruder Karl. Wie auch immer, Sidonies Blicke waren fast eine Berührung. Er spürte, wie das Blut in seinen Schläfen zu klopfen begann.
Sie redeten. Sie redeten viel. Sidonies Stimme klang angenehm, ihre Äußerungen waren eigenwillig und in der Wortwahl präzis. Max mischte sich ständig ein, es wurde deutlich, dass er intensiv um Sidonies Zuneigung warb, was Kraus verstörte. Zu dritt brachen sie auf, um eine Ausstellung zu besuchen.
Der Rundgang dort dauerte eine Stunde. Sie besahen und beredeten Exponate, denen es um Schönheit, die Kultur, die Geschichte von Landschaften rund um die Adria ging. Dann musste Max sich verabschieden, zu seinem heftigen Bedauern, wie er sagte, doch seine ärztliche Sprechstunde werde in Kürze beginnen. Kraus und Sidonie blieben zusammen. Ihm war jetzt, als sei sie ihm schon sehr lange bekannt. Seit dem Tode von Annie Kalmar hatte er keine Frau getroffen, die ihn derart beeindruckte. Aber was hieß hier beeindruckt: Er war dabei, dieser Frau zu verfallen.
Er winkte einer Droschke. Es war ein schöner Septembertag. Zusammen ließen sie sich in den Prater fahren. Sie verließen das Gefährt, Sidonie nahm seinen Arm, durch den Stoff des Ärmels hindurch spürte er ihre Hand. Sie gingen und redeten. Sie erzählte von ihrem Bruder Johannes, den sie sehr geliebt habe, den sie nun vermisse und dessen unerwarteter Tod ihr weiterhin zusetze. Ihm fielen Verse ein, die er geschrieben und veröffentlicht hatte, zwei Jahre nach dem Tod von Annie Kalmar, in Erinnerung an sie und als Trost für sich selber:
Der Tod kommt bald und sicher,
Hält stets sich in der Näh.
Er ist ein fürchterlicher
Tröster im Erdenweh.
Ich hasse ihn nicht aus Liebe,
Ich liebe ihn nur aus Hass.
Wenn man unsterblich bliebe,
Wie grauenvoll wäre das!
Er sagte die Verse auf, ohne an Annie Kalmar nur zu denken. Sidonie nickte dankbar. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter. Er spürte, wie das Blut in seinen Schläfen stärker zu klopfen begann.
So fing es an. Sie trafen sich schon am nächsten Tag wieder. Sie trafen sich in seiner Wohnung an der Lothringer Straße, später waren sie gemeinsam auf Reisen und trafen sich in Hotels. Noch lieber fuhr er zu ihr nach Janowitz. Das Schloss wurde ihm vertraut, er liebte den Park, die Wege im Park, den Teich, die Umgebung, die von Sidonie angelegten Rabatten. Dass der Pianist, der ihn bei seinen öffentlichen Auftritten begleitete, Janowitz hieß, mit Vornamen Franz, war ein hübscher Zufall und vielleicht mehr als das.
Er lernte Sidonies Bruder Karl kennen, den er manchmal dann auch in Wien traf, wenn der junge Baron in Geschäftsdingen unterwegs war und vielleicht noch zu irgendwelcher Zerstreuung. Nach geltendem Recht hatte Karl mitzuentscheiden, wenn seine Schwester eine Ehe zu schließen gedachte. Entgegen früheren Überzeugungen, zu denen er sich in der »Fackel« wiederholt bekannt hatte, dachte Kraus jetzt ernsthaft darüber nach, ob er die Baronesse Sidonie von Nádherný und Borutín vielleicht heiraten sollte.
Am Abend, nach dem Diner, setzte sich Sidonie an den Flügel und begann zu spielen, eine Valse von Frédéric Chopin. Karl Kraus hatte sie darum gebeten. Sie spielte, so empfand es Rilke, ziemlich gut, wiewohl nicht annähernd so perfekt wie Magda von Hattingberg. Die hatte ihn mit Beethoven verwöhnt, immer wieder, die Sonaten Beethovens wurden für ihn ein Auftakt zu körperlicher Umarmung und Liebe. Verglichen damit erschien ihm Chopin als wohlklingendes Geklimper. Freilich war es, dass er, was er wusste, mit Musik nicht so gut umgehen konnte wie mit Bildender Kunst, von der er vieles kannte und wusste, zu schweigen von der schönen Literatur, in der er, wie viele ihm nachrühmten und was er ihnen gerne glaubte, eine Art gottgleicher Herrscher war.
Er saß wenige Schritte von Kraus entfernt, in dessen scharfkantigem Gesicht Sidonies Spiel einen Ausdruck vollkommener Hingebung erzeugte. Die Beziehung zwischen dem Kritiker und der Baronesse beschäftigte ihn. Gewöhnlich gingen die beiden recht förmlich miteinander um, einmal jedoch, es war dies am späten Nachmittag gewesen, die beiden wähnten sich wohl allein, vernahm Rilke ein Gespräch zwischen den beiden.
Sidonie flüsterte: Sei leise. Ich bitte dich.
Kraus fragte: Warum?
Man könnte dich hören.
Soll man doch. Sowieso werden es bald alle erfahren.
War also die Förmlichkeit zwischen den beiden bloß vorgeschoben? War sie inszeniert, um die wahre Natur ihrer Beziehung zu verbergen? Wie aber standen sie wirklich zueinander? Welche Intimität herrschte zwischen ihnen? Hatten sie ein sexuelles Verhältnis? Der Gedanke daran beunruhigte Rilke.
Kraus war zwei Jahre älter als er. In der Größe glichen sie einander, mit schöner Literatur hatten sie beide zu tun. Rilke erinnerte sich eines Textes in der »Fackel«, darin es hieß, er, Rilke, habe einen Weg erfahren zwischen sich und der Welt, und durch die vielen Wände des Bewusstseins hindurch, auch durch sie filtriert, sei Gott in seine Welt gestiegen. Das war mehr als schmeichelhaft. Es ging um das »Stundenbuch«, das Kraus in der Nachfolge des großen Angelus Silesius sah. Auch das war mehr als schmeichelhaft. Rilke hatte daraufhin der »Fackel« einen eigenen Prosatext angeboten, es ging darin um Franz Werfel, der,