Janowitz. Rolf Schneider
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Die Chopin-Valse war zu Ende. Kraus klatschte enthusiastisch, was durch Rilke eine höfliche Ergänzung erfuhr. Charlie und Mary Cooney taten es ihm gleich. Sidonie nickte und sagte, sie wolle jetzt eine Nocturne spielen, wiederum von Chopin.
Rilke empfand die Anwesenheit von Kraus als eine lästige Störung, da er selbst es gewohnt war, im gesellschaftlichen Mittelpunkt allein zu stehen. Kraus beanspruchte das Interesse der anderen durch seine bloße Anwesenheit. Die Art, wie er redete und sich im Schloss bewegte, ließ zudem erkennen, dass er mit Janowitz vertraut war, sich also häufig hier aufhielt, jedenfalls häufiger als Rilke.
Beim Diner vorhin, Rilke aß einen Salat aus Rucola und Schafskäse, dazu Weißbrot, während den anderen am Tisch Räucherfisch, kalter Braten nebst Schinken serviert wurde, hatte Kraus das Gespräch dominiert.
Irgendwann hatte Rilke ihn gefragt: Äußern Sie immerfort nur die boshaftesten Bemerkungen?
Die Antwort von Kraus war: Ich bin berühmt dafür.
Worauf Sidonie ausführlich zu lachen anfing, was Rilke kränkte.
Während er jetzt dem Vortrag der Nocturne lauschte, dachte er darüber nach, ob es vielleicht angebracht wäre, dass er baldmöglichst aus Janowitz abreiste. Dann dachte er an seine Zahnbehandlung, die noch nicht abgeschlossen war. Er griff an seine linke Wange. Die Schwellung war fühlbar zurückgegangen. Seine Zunge betastete das von Václav Poláček in seinen Molar gebohrte Loch, das demnächst mit einer Goldplombe gefüllt werden sollte. Bis dahin würde er in Janowitz zu bleiben haben. Außerdem wäre die vorzeitige Abreise das Eingeständnis einer Niederlage, was ihm sein Selbstbewusstsein verbot.
Die Nocturne klang aus. Das Ritual des Beifalls wiederholte sich. Sidonie erhob sich von ihrem Klavierschemel, lächelte verlegen und deutete eine Verbeugung an. Sie trug ein Kleid mit weitem Ausschnitt, ähnlich jenem, das sie auf dem großen Gemälde mit ihrem Porträtbildnis trug, das Ding hing im Treppenhaus des Schlosses. Rilke bedachte, dass seine vorzeitige Abreise auch ein Verzicht auf die Nähe der schönen Baronesse bedeuten würde, und das mochte er sich keinesfalls antun.
Das Gästezimmer von Kraus in Schloss Janowitz befand sich unmittelbar neben jenem von Rainer Maria Rilke. Die beiden Männer hatten sich am Abend höflich voneinander verabschiedet. In Rilkes Zimmer war alles still. Wahrscheinlich hatte sich der Dichter bereits zu Bette begeben, vielleicht las er oder schrieb einen seiner vielen Briefe. Sidonie hatte Karl Kraus die für sie bestimmten Schreiben Rilkes gezeigt, Kraus hatte sie aufmerksam gelesen. Die Schrift war schön, entschieden schöner als seine eigene, der Wortlaut war von lyrischer Eleganz, mit einem gewissen Hang zum Pathos und manchmal stark parfümiert.
Rilke umwarb Sidonie. Das war zu erkennen, aus seinen Briefen ebenso wie in seinem Verhalten hier in Janowitz. Dies alles musste Kraus nicht verunsichern, aber es verunsicherte ihn. In seinen Augen war der Dichter ein eitler Sonderling mit traurigem Walrossbart, seine zahlreichen erotischen Erfolge, von denen der Wiener Kaffeehausklatsch wusste, ließen sich durch sein Äußeres kaum erklären. Demnach waren es seine Dichtungen, die seine Wirkung auf Frauen hervorriefen. Der Enthusiasmus, mit dem Sidonie von Rilkes Versen redete, war dafür ein Indiz. Mehr bewirkte es bei Sidonie nicht. Dass es mehr hätte bewirken können, verdross Karl Kraus.
In Rilkes Zimmer blieb es weiterhin ruhig, doch im Haus gab es Geräusche. Vielleicht war noch Dienstpersonal zugange, oder Charlie war unterwegs.
Kraus mochte Janowitz. Er mochte es sehr. Ein Aufenthalt hier war für ihn der vollkommene Gegenentwurf zu seinem Leben in Wien. Dies hatte mit Sidonie zu tun, und wiewohl er sie auch anderswo traf, in Wien oder auf Reisen, bedeutete ihm erst Janowitz die Vollendung seiner Liebe zu ihr. Um dessentwillen nahm er sich ihres Bruders Charlie an, wenn der in Wien weilte, um geschäftliche Dinge zu regeln, mit dem er dann abends ins Theater ging, um ihn anschließend beim Entree des noblen Stundenhotels Orient am Unteren Graben abzuliefern. Wie hatte er einst geschrieben? In der Liebe gibt es nichts Anstößiges, solange der unbeteiligte Moralrichter nicht seine Nase hineinsteckt und die Nachtwandler zur Besinnung ruft.
Janowitz war der Gegenentwurf zu seinem Leben in Wien, Sidonie war der Gegenentwurf zu seinem früheren, auch in der »Fackel« nachlesbaren Frauenbild. Persönlichkeit des Weibes ist die durch Unbewusstheit geadelte Wesenlosigkeit. Oder auch: Nichts ist unergründlicher als die Oberflächlichkeit des Weibes. Oder: Der Mann hat fünf Sinne, die Frau bloß einen. Bloß einen? Im Weib, als dem ausschließlich sexuellen Wesen, kann auch die Abkehrung zum eigenen Geschlecht nicht antisozial wirken. Weil: Die Natur hat dem Weib die Sinnlichkeit als den Urquell verliehen, an dem sich der Geist des Mannes Erneuerung hole.
Das alles hatte er so notiert. Es war seine Überzeugung gewesen, obschon er Annie Kalmar gekannt und geliebt hatte. Erst seit er Sidonie begegnet war, sah er die Dinge anders.
Er öffnete die Tür einen Spalt und lauschte. Im Haus war alles still. Er trat auf den Flur, er überquerte den Flur, leise, niemand sollte ihn hören. Nicht nur Rilke schlief auf dieser Etage, auch Sidonies Bruder Charlie hatte hier seine Räume. Niemand durfte hören, niemand sollte wissen, was Kraus hier unternahm. Eigentlich war die Situation mehr als peinlich, eigentlich war sie unmöglich, war geradezu demütigend, und nichts war Kraus verhasster, als gedemütigt zu werden. Sidonie hatte ihn nachdrücklich um diese Vorsicht gebeten. Allein um ihretwillen verhielt er sich so, dabei war er längst entschlossen, die Sachlage zu ändern.
Vorsichtig öffnete er die Tür zu dem Zimmer, in dem Sidonie schlief, und schlich hinein.
Sie tastete nach dem silbernen Etui auf ihrem Nachttisch, öffnete es und entnahm eine Zigarette, die sie anzündete. Es war das nach einer vollzogenen Kohabitation bei ihr übliche Verhalten. Karl Kraus missfiel dies, doch mochte sie davon nicht lassen. Die Streiterei deswegen gehörte zu den kleinen Kontroversen, die es zwischen ihnen gab.
Sie sah, wie sich die ausgeatmeten Rauchwölkchen im Licht der Nachttischlampe verloren. Neben ihr griff Kraus nach seiner Brille und setzte sie auf. Mit beiden Armen umschlang er seinen nackten Oberkörper, seine rechte Schulter stand erkennbar höher als die linke.
Sidi, sagte er, hör mir zu. Ich will mich endlich nicht mehr mit dir verstecken müssen. Ich will nachts nicht mehr heimlich in dein Zimmer schleichen.
Ach, Karl. Du weißt, dass ich Rücksichten nehmen muss. Wie sehr sie mich auch quälen. Wir sind nicht allein hier, auf dieser Etage.
Du redest von Rilke?
Auch.
Wie lang will er noch bleiben?
Ich weiß es nicht. Er hat es mir nicht gesagt. Rilke kommt und geht, wie er mag, so war er schon immer. Außerdem hat er gerade eine Zahnbehandlung, in Beneschau.
Der Kerl stört mich.
Bist du eifersüchtig?
Muss ich das sein?
Manchmal kommt es mir so vor.
Ich mag ihn nicht sonderlich. Als Person. Er ist wehleidig, affektiert und verlogen.
Du bist ungerecht.
Ich