Die weise Schlange. Petra Wagner

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Die weise Schlange - Petra Wagner

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den Kopf umhergeworfen und ist davongerannt wie auf der Flucht.“

      Loranthus richtete sich zu seiner vollen Größe auf und Viviane konnte einen Anflug von Genugtuung aus seiner Stimme heraushören: „Ich habe noch gar nicht gewusst, wie grandios ich sprinten kann. Urplötzlich stand diese Sau vor mir und scharrte mit den Hufen. Da haben sich bei mir sämtliche Nackenhaare aufgestellt und ich bin gespurtet wie Herakles bei Olympia. Meinen Sprung übers Wasser hättest du sehen sollen! Allerdings habe ich auch nicht gewusst, wie schnell eine Sau rennen kann. Zum Glück habe ich diesen Baum gesehen, also bin ich hochgesprungen und geklettert. Ich bin noch nie auf einen Baum gestiegen, schon gar nicht dermaßen rasant.“

      „Das hast du gut gemacht.“

      „Ja, das sehe ich auch so. Oryeithai!“

      Viviane verstand nicht ganz. Nun hatte sie ihn ordentlich gelobt, und kaum hatte er sich in Pose geworfen, schaute er unglücklich drein. Ja, er begutachtete mit wachsendem Entsetzen seine Erscheinung, dabei waren die paar Schrammen eher harmlos, auf dem rechten Handrücken befand sich die einzig klaffende Wunde.

      Auffordernd streckte sie ihm den Wasserschlauch hin und wie erwartet begann er gierig zu trinken.

      „Diese Blessuren“, sie zeigte auf sein Gesicht und die linke Hand, „da brauchst du bloß Spucke drauf machen. Einzig dein rechter Handrücken sieht schlimm aus, da ist besonderer Schutz notwendig. Am besten auf den Schnitt urinieren, jetzt sofort! Oder hast du das schon erledigt?“

      „Was?!“ Hastig überprüfte Loranthus den Sitz seiner Hose und jammerte: „Das wollte ich gerade tun, als es hinter mir so seltsam knackte. Mir kam es vor, als ob mich jemand beobachtet. Da habe ich meine Hosen lieber wieder hochgezogen, um woandershin zu gehen. Aber da stand auch schon dieses Riesenvieh vor mir und ich vergaß, was ich eigentlich vorhatte. Nur eines wusste ich: Die würde mich umbringen, falls sie mich zu fassen bekäme! Das habe ich in ihren Augen gesehen!“

      Loranthus betrachtete seinen anderen, nur leicht zerkratzten Handrücken und schnaufte schwer.

      „Wegen des Biestes habe ich mir einen Fingernagel abgebrochen! Nein, vier! Ganze vier Stück!“

      Eilig knabberte er am ersten verunstalteten Finger herum und schimpfte nebenbei über Wildschweine im Allgemeinen und irre Sauen im Besonderen.

      Viviane staunte, wie lange er jammern und auf seinen Zeigefinger beißen konnte. Was für ein Aufwand wegen vier Nägeln, wo ihm doch noch viel mehr hätte abbrechen können.

      „Oh, du armer kretischer Stier! Deine Hufe sind eingerissen? Mach nicht so viel Muh und Mühe, deine Leiden sollen auf wundersame Weise enden“, sang Viviane die zweite Stimme in seinem Gejaule und kramte in einer ihrer Taschen. Mit übertriebener Verbeugung überreichte sie ein schmales Kupferplättchen, das vorne eine spitze Kerbe hatte.

      „Perfekt!“, jauchzte Loranthus und riss ihr das Teil fast aus der Hand. Sofort schabte er damit hoch konzentriert über seinen Fingernagel. „Dein Nagelschneider ist sehr scharf, ich danke dir, aber …“ Er legte seinen Kopf schief und schaute sie von unten her an.

      „Ich werde das Gefühl nicht los, dass du dich über mich lustig machst.“

      „Da trügen dich deine Sinne nicht, denn ich werde das Gefühl nicht los, dass du gar nicht begreifst, wie viel Glück du eigentlich hattest.“ Vivianes Hand zuckte verächtlich zu den Schrammen. „Die paar Blessuren sind kaum der Rede wert, du jedoch lamentierst wegen abgebrochener Fingernägel, als sei jemand gestorben! Was meinst du? Ob du noch jammern könntest, wenn sie dich erwischt hätte?“

      Betreten schaute Loranthus auf seine Hände, wo ihn noch drei weitere Nägel zu besagtem Jammern animierten.

      „Deinen Spott habe ich wohl verdient“, gab er zu und sah fest in Vivianes Augen, damit sie nicht mitbekam, wie er so rasch wie möglich die anderen Nägel bearbeitete. „Ich bin nie besonders agil gewesen. Ich habe eine sehr angesehene Schule durchlaufen und die Bücher meines Vaters studiert. Mich körperlich zu betätigen, ist mir gar nicht in den Sinn gekommen, höchstens, wenn ich musste, wie in der Schule. Sobald ich alt genug war, habe ich meinen Vater auf seinen Handelsreisen begleitet. Ich habe viele Orte kennengelernt, viele Menschen. Ergo hatte ich stets adrett auszusehen, eben vorzeigbar. Was meinst du, was ein Handelspartner von meinem Vater gedacht hätte, wenn ich auch nur ein winziges bisschen schäbig gewesen wäre oder gar gestunken hätte vor lauter Schweiß wie ein ranziger Ziegenbock! Wir sind eine uralte und sehr bedeutende Händlerdynastie!“

      Loranthus merkte, wie er sich in Rage redete; den Nagel vom kleinen Finger hatte er schon viel zu kurz geschoren. Außerdem schien Viviane nicht besonders überzeugt. Er holte tief Luft und fuhr nun ruhiger fort: „Nun gut, ich merke, dies ist kein triftiger Grund für dich. Du bist wesentlich anders als ich. Noch so jung und trotzdem allem gewachsen. Du bist bestimmt als kleines Kind schon auf Bäume geklettert. Du kannst mir wirklich viel beibringen, Viviane.“ Mit seinem besten Hundeblick schaute er bittend zu ihr auf.

      „Na, das Auf-Bäume-Klettern überlasse ich gerne meinen Brüdern, die haben mir das schließlich auch beigebracht.“

      „Du hast Brüder?“ Loranthus bekam ganz große Augen. „Ich habe mir auch immer welche gewünscht, aber meine Mutter hat nur mich bekommen und dann ist sie gestorben. Damals war ich gerade elf Jahre. Mein Vater vermisst sie immer noch sehr.“

      „Oh weh, das tut mir leid, mein Freund.“ Mitfühlend tätschelte Viviane seinen Arm und zog ihm nebenbei den Nagelschneider aus den Fingern. „Meine Brüder werden dich gern unter ihre Fittiche nehmen. Allerdings befürchte ich, du wirst bald froh sein, keine gehabt zu haben, wenn du so derart ruhig und behütet aufgewachsen bist wie niemand sonst, den ich kenne.“

      „Ach, da fällt mir ein …“ Loranthus druckste verlegen herum. „Wie bist du eigentlich so schnell darauf gekommen, dass ich ein Grieche bin?“

      „Na, das ist doch klar wie ein Gebirgsbach, ich habe dich gehört. Jemand, der in Griechisch mit sich selbst redet, kann ja schlecht ein anderer sein als ein Grieche, oder? Außerdem …“ Viviane hätte nun sagen können, dass sie Loranthus bereits kannte und ihn für einen harmlosen Händler hielt. Doch sie war sich dessen noch nicht ganz sicher. Sie traute den Römern durchaus zu, auf die Mitleidstour einen Spion bei den Hermunduren einzuschleusen; noch dazu einen echten Griechen, der diese Aufgabe – warum auch immer - bewerkstelligte. Im Hinblick auf den zu erwartenden Krieg zwischen Chatten und Hermunduren wäre das schlichtweg eine geniale Idee, die sie persönlich als ‚leicht durchführbar‘ bezeichnet hätte. Immerhin wäre sie selbst der beste Beweis, wenn es sich so verhielte, denn gestern hatte sie Loranthus bedenkenlos unter ihre Fittiche genommen und heute nahm sie ihn mit nach Hause. Womit sie wieder am Anfang ihrer Gedanken war: Sie traute es Loranthus zwar nicht zu, doch sie vertraute ihm auch nicht wirklich. Es war an der Zeit, ihm ein wenig auf den Zahn zu fühlen, daher zeigte sie in weite Ferne gen Westen. „Außerdem erkennt man es an deiner Wortwahl.“

      „An meiner Wortwahl?“

      „Ja, Loranthus. Du sagst ‚Galatai‘ oder ‚Keltoi‘, wie schon die alten Griechen vor langer Zeit. Die Römer sagen mittlerweile ‚Germanen‘ zu unsereins. Die sind nämlich an guter Nachbarschaft interessiert, jedenfalls offiziell. Die würden niemals darauf hinweisen, dass wir den gleichen hellen Teint aufweisen wie die Leute in den besiegten Gebieten links vom Rhein oder wir allgemein höher gewachsen sind als die Römer. Das Wort ‚Nachbarn‘ zieht wie von selbst eine Grenze und es hört sich doch viel kleiner an, als das riesige Gebiet der unbesiegten Sueben in Wirklichkeit ist.“ Sie hob in einer resignierenden Geste die Hände. „Tja, als die großen Imperatoren

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