Ressentiment. Robert Müller
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Das Ressentiment wird zu einem den Fakt vor jedem Fakt bestimmenden Phänomen. Es verbiegt und verdreht ihn, bis er mit dem eigenen Narrativ hinreichend harmonisiert ist. Die Entwicklung drängt bis an einen Punkt, an dem die zur Selbstbildstabilisierung in Gang gesetzte Konstruktion total wird. Sie entwickelt längst Eigendynamiken, produziert längst selbst neue Zwänge und die notwendigen Plausibilisierungen zum Zwecke der Stringenz gleich mit. So schafft sich die ressentimental überformte Persönlichkeit ein aus ihrer verqueren Perspektive kohärentes Weltbild. Seine Kohärenz wird durch den übermächtigen psychischen Druck, den die ressentimentalen Mechanismen kontinuierlich und unauflöslich produzieren, regelrecht erzwungen. Das ressentimentale Ego kämpft regelrecht um das eigene Überleben, lebt im andauernden Krisenmodus, im immerwährenden Ausnahmezustand. Es ist ab einem gewissen Punkt nur noch bedingt zurechnungsfähig. Erst hier wird das Ressentiment in seiner voll ausgebildeten Form ersichtlich. Das Ressentiment ist, wenn es zu seiner vollen Entfaltung gelangt, ein in sich kohärentes und nach außen hin hermetisches Selbst- und Weltbild.
Wenn das Ressentiment in seinen Anfängen eine volatile Stimmung gewesen sein mag, die dann und wann auftritt – etwa wenn der nächste Konflikt aufzieht – und ebenso schnell wieder verschwindet, so hat es sich im Laufe seiner primären, spätestens aber in seiner sekundären Ausbildung zu einer allgemeinen Lebenseinstellung verstetigt und verfestigt. Spätestens mit dem Aufbau eines geschlossenen Weltbilds ist es zu einem Wesens- und Charakterzug geronnen, der nicht mehr einzelne Aspekte des Lebens einfärbt, sondern den Lebensvollzug als Ganzes prägt und durchwaltet. Es hat während seines langen Entwicklungsprozesses die Persönlichkeit des zum Ressentiment Neigenden in eine Ressentimentpersönlichkeit umgeformt. Es ist ihm zur ›zweiten Natur‹ geworden. In seinem finalen Stadium hat es seine transformativen Prozesse abgeschlossen und sich selbst darin gleichsam aufgelöst. Das Ressentiment selbst, als erfahrbare Affektstruktur beziehungsweise Affektabfolge, als herausstehendes emotionales Ereignis, ist in den Hintergrund getreten – weil es nun das emotionale Erleben insgesamt durchwirkt. Das Ressentiment ist dann ›vollendet‹, wenn es zum Daseinsmodus des Ressentimentalen geworden ist: wenn es zur Matrix des Gefühlshaushaltes geworden ist und alles von ihm her gefühlt wird, was gefühlt wird; wenn es den Wahrnehmungsapparat übernommen hat und alles in seinem Lichte wahrgenommen wird, was wahrgenommen wird; wenn es das Selbst- und Weltbild nach seinem Bilde umgestaltet hat und alles dergestalt interpretiert, rezipiert und konstruiert wird, was Eingang findet in den Geist der Ressentimentpersönlichkeit; wenn es zur Wesensart, zur Existenzweise derselben geworden ist. Es ist dann vollendet, wenn es die Ressentimentpersönlichkeit derart durchdrungen hat, dass es sich quasi auflöst, wenn es mit dem Bewusstsein deckungsgleich geworden ist und somit aus dem Bewusstsein verschwindet.
3. RESSENTIMENT, INDIVIDUALPSYCHOLOGISCH
Das Ressentiment ist, wie sich gezeigt hat, ein prozessuales Phänomen – gekennzeichnet von verschiedenen Entwicklungsphasen. Daher kann ›Ressentiment‹ sowohl die Hemmung des Ausagierens der verschiedenen negativen Affekte und infolgedessen deren wiederholtes Durch- und Nachleben bezeichnen; oder die zunehmende Loslösung dieser Affekte von den sie ursprünglich auslösenden Objekten sowie deren Verschiebung auf relativ willkürlich gewählte Ersatzobjekte (Entrealisierung); oder die Ausbildung psychologischer Abwehrmechanismen zur Stabilisierung des beschädigten Selbstverhältnisses; oder die Konstruktion eines postfaktischen, in sich geschlossenen Weltbildes (ressentimentales Narrativ).
Darüber hinaus, so wird sich zeigen, ist das Ressentiment multidimensional. Es ist ein psychologisches, primär individualpsychologisches Phänomen; es hat aufgrund seiner sozialpsychologischen Potenziale zugleich eine soziologische Dimension; und darüber hinaus eine Reihe von philosophischen Implikationen.
Das Ressentimentphänomen verfügt also über eine gewisse Unschärfe. Sowohl seine verschiedenen Phasen also auch Dimensionen müssen sehr genau unterschieden werden. Auf der individualpsychologischen Ebene ergeben sich zunächst weitere Beobachtungen.
PRIMAT DER EMOTIONEN
Das Ressentiment ist gefühlsbasiert. Es sind die Affekte – Groll, Verbitterung, Neid, Hass, Verachtung, Rachsucht, Ranküne, Schadenfreude, Missgunst, Übelwollen –, die Ausgangspunkte und treibende Kräfte hinter der Ressentimentbildung sind. Und es sind die Affekte, die der bestimmende Faktor hinter dem Phänomen des Ressentiments bleiben. Sie erlangen ihre Intensität, ihre Wirkmacht dadurch, dass sie nicht ausagiert werden. So kommt es zur Akkumulation dieser sehr speziellen, in ihrem Spektrum sehr eingeschränkten Emotionen – und längerfristig zur Marginalisierung von anders geladenen, gegenläufigen, ausgleichenden Emotionen. Sie werden die dominante Größe im Gefühlshaushalt und verflachen allmählich aber unweigerlich dessen Variationsvielfalt. Die nicht ausagierten Affekte können durch ihr langes Unbefriedigt- und Unbefriedet-Bleiben schließlich obsessiven oder gar Fetischcharakter annehmen.
Dass das Ressentiment primär auf der emotiven Ebene fungiert, bedeutet zugleich, dass jede kognitive Erwägung ihm gegenüber sekundär ist. Die der Ressentimenterfahrung zugrunde liegenden Gefühlslagen und Gemütsbewegungen haben strukturell deutlich mehr Gewicht und Strahlkraft als rationale Überlegungen oder sachliche Argumente.58 Je weiter fortgeschritten die Ressentimentbildung – gerade, wenn es zur Selbstbildstabilisierung vermittels weitreichender Konstruktionen und Fabrikationen eines entsprechenden Narrativs kommt –, desto widerstandsloser lassen sich letztere aus- oder überblenden, sobald sie zu ersteren in Widerspruch geraten: das Ressentiment ist »gegenüber Argument und Erfahrung abgedichtet«.59 Das bedeutet mitnichten, dass die Ratio schlicht ausgeschaltet wird – Ressentiment ist kein Zustand der Idiotie. Sie übt vielmehr eine nicht geringe Funktion für die gefühlsbasierten ressentimentalen Konstruktionen aus: die Ratio tritt in ihren Dienst und versorgt sie mit Struktur und Argumenten. Entstehung und Etablierung eines selbstbildstabilisierenden