Geschichte der deutschen Literatur. Band 3. Gottfried Willems
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Man mag das kritisieren; man mag es für problematisch, für ungerecht und unhistorisch halten, wenn eine bestimmte Epoche und ein einzelner Autor auf solche Weise aus der geschichtlichen Entwicklung heraus- und über anderes hinausgehoben werden, ja man mag darin geradezu ein Unheil erblicken – es ändert nichts an der Tatsache, daß sie lange Zeit so gesehen worden sind und daß sich ihr Bild in solcher Bedeutung im kulturellen Gedächtnis festgefressen hat. Wie fest, mag man etwa daraus ersehen, daß eine unbedeutende Kleinstadt wie Weimar 1999 aus Anlaß des 250. Geburtstags von Goethe zur Kulturhauptstadt Europas ausgerufen wurde, welche Mengen von öffentlichen Geldern damals nach Weimar flossen und welche Beachtung die Events des Goethe-Jahrs in den Medien und bei einem breiten Publikum fanden. Oder man erinnere sich an das gewaltige Echo, das der Brand der Anna-Amalia-Bibliothek zu Weimar, einer zentralen Stätte der Erinnerung an die „Weimarer Klassik“, 2004 in der Öffentlichkeit hatte. Oder man denke an die zahllosen Goethe-Straßen und Goethe-Plätze, die sich überall in Deutschland
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finden. Klassik-Mythos und Goethe-Kult sind nach wie vor feste Bestandteile der deutschen Kultur.
Sie sitzen tief, sie wirken bis heute, und so hat man sie zunächst einmal als Fakten der Kulturgeschichte und Faktoren des kulturellen Lebens zur Kenntnis zu nehmen – und zur Kenntnis nehmen heißt ja noch nicht gutheißen. Man hat sie zur Kenntnis zu nehmen als Teil der kulturellen Landschaft, in der man sich bewegt, so wie man die geographischen Gegebenheiten zur Kenntnis nehmen muß, wenn man sich nicht verlaufen will.
Der Klassik-Mythos als Problem der Literaturwissenschaft
Zumal die Literaturwissenschaft hat allen Grund, sich von dem besonderen Status der Goethezeit Rechenschaft zu geben. Denn der Klassik-Mythos hat mehr als 150 Jahre lang den Blick auf die Epoche bestimmt und unausgesetzt am Bild ihrer literarischen Hinterlassenschaft mit herummodelliert. Was von ihm aus an Vorstellungen kultiviert worden ist, hat sich wie ein Firnis über die literarischen Werke gelegt, ja ist dank einer kontinuierlichen Rezeption und Interpretation in seinem Sinne tief in die Texte selbst eingedrungen. Schon bevor der Leser Goethes „Faust“ zum ersten Mal aufschlägt, hat er Vorstellungen wie die im Kopf, daß es sich dabei um etwas besonders Bedeutendes handeln würde und daß es da um das „faustische Streben“ gehen werde, um etwas, das irgendwie typisch deutsch wäre; und wenn er sich dann an die Lektüre macht, wird er geneigt sein, derlei auch im Text wiederzufinden, wie immer er solche Vorstellungen bewerten mag, nachdem er sie sich bewußt gemacht und kritisch durchdacht hat.
Wer einen Zugang zur Literatur der Goethezeit finden, ihr gegenüber einen eigenen Standpunkt, eine eigene Sicht der Dinge entwickeln will, der kommt deshalb nicht umhin, mit ihr zugleich ihre Rezeptions- und Interpretationsgeschichte ins Auge fassen und sich Rechenschaft von dem Klassik-Mythos und den diversen Klassiker-Kulten, dem Goethe-, Schiller-, Novalis-, Hölderlin-, Kleist-Kult zu geben, sich eben mit all dem auseinanderzusetzen, was an Erinnerungskultur zwischen ihm und den Texten steht. Das gilt zumal für den, der einen wissenschaftlich vertretbaren Zugang sucht. Wenn auch in dieser Einführung der Begriff der Goethezeit und die Daten 1770 und 1830 als Epochengrenzen aufgegriffen werden, so sollen damit zunächst und vor allem die Voraussetzungen für eine solche
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kritische Auseinandersetzung mit der Rezeptionsgeschichte geschaffen werden.
So soll denn die Frage nach der Eigenart und den Grundlagen von Klassik-Mythos und Klassiker-Kult hier am Anfang stehen, als eine Art methodisches Sich-die-Augen-Reiben, das einen freieren Blick auf die Epoche und ihre Texte ermöglichen soll, einen Blick, der nicht immer schon mit dem ideologischen Beiwerk verklebt wäre, das ihnen im kulturellen Gedächtnis anhaftet. Wie ein Restaurator den Firnis von alten Gemälden entfernt, um die ursprüngliche Farbgebung wieder sichtbar zu machen, soll die Rezeptions- und Auslegungsgeschichte der Goethezeit von dem getrennt und abgehoben werden, was in ihren Texten niedergelegt ist. Das bedeutet freilich, daß diese Einführung gleich mit einem nicht ganz einfachen Kapitel beginnt. Denn methodische Fragen, Fragen des Zugangs zum Gegenstand, der angemessenen Zugangsweise sind nun einmal besonders anspruchsvoll und aufwendig. Doch nur wer es mit ihnen aufnimmt, vermag in eine Auseinandersetzung einzutreten, die allenfalls wissenschaftlich heißen kann.
2.1 Germanistik und Klassik-Mythos
Die Geburt der Neugermanistik aus dem Klassik-Mythos
Wer immer einen Weg zur Literatur der Goethezeit sucht, ist mit ihrem Klassik-Nimbus konfrontiert und tut gut daran, sich darauf einzustellen, ganz besonders aber der Germanist und Literaturwissenschaftler. Für ihn geht es dabei nicht nur um einen angemessenen Zugang zu den Werken einer bestimmten Epoche, sondern darüber hinaus geradezu um sein Fach als ganzes, um das Selbstverständnis des Fachs. Denn die Neugermanistik, die Wissenschaft von der Neueren Deutschen Literatur, ist als eine eigene, besondere Disziplin der akademischen Wissenschaft unmittelbar aus dem Klassik-Mythos hervorgegangen. Der Klassik-Mythos war ihr Schöpfungsbefehl, bezeichnet „das Gesetz, nach dem sie angetreten“, und das hat bis heute Folgen für ihre Arbeit.
Nun ist zwar auch die Kritik an der „Klassik-Legende“ schon über hundert Jahre alt, und sie hat sich seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts geradezu einen festen Platz im geistigen Haushalt der
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Germanistik erobert.2 Doch lassen sich die Spuren des Klassik-Mythos bis heute unschwer in allen Arbeitsbereichen des Fachs nachweisen, selbst in Untersuchungen zu anderen Epochen, zu älteren Epochen wie Barock und Aufklärung ebensowohl wie zu jüngeren, zum Realismus des 19. Jahrhunderts oder zur Moderne des 20. Jahrhunderts. Denn diese anderen Epochen sind von der Germanistik zunächst nur als Stationen auf dem Weg zum Höhe- und Gipfelpunkt der Klassik bzw. auf dem Weg von ihm weg begriffen worden, und das heißt: sie sind lange Zeit an den Vorstellungen der Klassik gemessen worden, oder vielmehr an den Vorstellungen, die man sich von ihr gemacht hat, etwa an den Begriffen von Autorschaft und vom literarischen Kunstwerk, die man ihr zuschrieb. An den Folgen hat die Germanistik bis heute zu tragen.
Die Neugermanistik ist als eine eigene, besondere Disziplin im 19. Jahrhundert aus dem Glauben, aus der allgemein unter den Deutschen verbreiteten und von den gesellschaftlichen Institutionen geförderten Überzeugung geboren, daß die Literatur der Jahre 1770 bis 1830 der unübertreffliche Höhepunkt der deutschen Literaturgeschichte gewesen sei, und insofern der kostbarste Schatz in der kulturellen Überlieferung der Deutschen; daß da etwas Gestalt angenommen habe, was für alle Deutschen, für jeden Einzelnen wie für die ganze Nation, von bleibender Bedeutung sei und daß es deshalb der jeweiligen Gegenwart immer wieder neu zu erschließen und darzustellen sei, im Namen der Identität der Deutschen und ihrer kulturellen Eigenart. Die „deutsche Literaturbewegung von Lessing bis Goethe“ sollte den Deutschen über allen Wechsel der Zeiten hinweg nahegebracht werden. Das war die gesellschaftliche Mission, die die Neugermanistik als Wissenschaft im 19. Jahrhundert ins Leben rief.3
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Literaturgeschichte im Dienst des Nationalismus
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