Geschichte der deutschen Literatur. Band 3. Gottfried Willems
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Lessing, der Sturm und Drang, die Klassik und die Romantik werden dabei als Stationen eines Prozesses verstanden, in dem der Einfluß des Auslands, insbesondere der der französischen Kultur, nach und nach immer weiter zurückgedrängt worden wäre, so daß der deutsche „Volksgeist“ immer entschiedener und bewußter zu sich selbst hätte finden können – bis dahin, daß er in Goethe und seinen Mitstreitern schließlich ganz bei sich selbst angekommen wäre und Werke hätte entstehen lassen, die als sein vollkommener Ausdruck gelten könnten. Dementsprechend erscheinen diese Werke hier als ideale Medien einer Kultur der deutschen Identität, als Werke, deren Lektüre die Deutschen ihrer nationalen Identität innewerden ließe und aus ihnen eine selbstbewußte, ihrer selbst gewisse, in sich gefestigte Nation machen würde.
Goethe selbst hat sich, wie angedeutet, in diesem Modell nicht wiedererkennen mögen und statt dessen eine Weltliteratur propagiert. Damit zog er in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts trotz seiner Verklärung zum Klassiker immer wieder Kritik auf sich, bei Romantikern wie den Brüdern Schlegel und Ludwig Tieck oder dann auch bei einigen Jungdeutschen der Vormärz-Zeit wie Wolfgang Menzel. Goethe war insofern in der ersten Hälfte des Jahrhunderts ein durchaus umstrittener Autor. Aber in der zweiten Jahrhunderthälfte hat sich diese Kritik dank der Arbeit der Neugermanisten dann wieder gelegt; die Vereinnahmung Goethes für das Konzept einer deutschen Nationalliteratur war abgeschlossen.16
Die Neugermanistik an Universität und Schule
Eine Voraussetzung für diese durchschlagende Wirkung war, daß sich die Neugermanistik damals an den Universitäten als ein eigenes Fach, als besondere akademische Disziplin hatte etablieren können, daß nun überall Lehrstühle für neuere deutsche Literatur eingerichtet worden waren – der zweite große Schritt in der Entwicklung der Neugermanistik. Zugleich wurde die neuere deutsche Literatur zu einem Gegenstand des Schulunterrichts; denn das war sie zuvor nur in engen
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Grenzen gewesen. Damals entstand z. B. Reclams Universalbibliothek, entstand das Institut des Reclamhefts, wie es die wachsende Nachfrage nach wohlfeilen Ausgaben literarischer Texte in Universität und Schule erkennen läßt; das Reclamheft Nr. 1 brachte 1867 bezeichnenderweise eine Ausgabe von Goethes „Faust“, der „Bibel der Deutschen“.
Die Neugermanistik zwischen klassischem Erbe und Moderne
Die Neugermanistik blieb dem Konzept der Nationalliteratur und der Ausrichtung auf die Blütezeit von Klassik und Romantik bis weit ins 20. Jahrhundert hinein treu, bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, im Osten Deutschlands nicht weniger als im Westen. Und dies, obwohl seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, seit dem Naturalismus von Arno Holz und Gerhart Hauptmann und dem Symbolismus von Stefan George, Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke eine moderne Literatur entstanden war, die die Literatur von Klassik und Romantik nicht mehr fraglos als klassisches Vorbild begriff, die alle epigonale Orientierung an der Vergangenheit hinter sich lassen und etwas ganz anderes, etwas durchaus Neues versuchen wollte; die sich vielfach auch weniger als Teil einer Nationalkultur verstand denn vielmehr als Teil einer internationalen Moderne. Für die Germanistik wurde der Siegeszug der literarischen Moderne zunächst vor allem zu einem Anlaß, auf die bleibende Bedeutung des klassisch-romantischen Erbes hinzuweisen und es als einen unverlierbaren Schatz, als einen ewigen Hort des Wahren-Guten-Schönen der fortschreitenden Modernisierung entgegenzuhalten, als unverlierbaren Halt im Wirbel der „totalen Mobilmachung“ der Moderne.
Solange die Germanistik ihre Aufgabe so sah, hatte sie natürlich keinen Grund, mit dem Begriff der „Goethezeit“, den Epochengrenzen 1770 und 1830 und dem Bild vom Entwicklungsgang der deutschen Literatur unzufrieden zu sein, das die nationale Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts gezeichnet hatte. Daß daran manches zu kritisieren sein könnte, ging ihr erst auf, als sie die Literatur des 20. Jahrhunderts, die moderne Literatur im engeren Sinne, ernst zu nehmen begann, und das heißt: als sie damit begann, diese als eine Literatur zu nehmen, die eigenen Gesetzen gehorchte und sich nicht mehr am Maß der Klassik messen ließ. Was sie seither an kritischen Überlegungen angestellt hat, kam freilich nicht nur dem Verständnis der Moderne des 20. Jahrhunderts zugute, sondern auch dem von Klassik und Romantik, ja dem aller Epochen, der
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älteren nicht weniger als der jüngeren. In eben dem Maße, in dem man sich von den Insinuationen der nationalen Literaturgeschichtsschreibung löste, wurde ein freierer Blick auf die gesamte deutsche Literatur möglich.
Wie sieht nun das überkommene Epochenschema im einzelnen aus, und was ist an ihm aus heutiger Sicht zu kritisieren?
2.2 Das Epochenschema der germanistischen Tradition
Von der Aufklärung zum Sturm und Drang
In seinen Grundzügen ist das Epochenschema, das die nationalistische Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhundert entwickelt hat, wohl auch heute noch jedem geläufig, der sich für die deutsche Literatur und ihre Geschichte interessiert. Die Jahre um 1770 werden da als eine Zeit der Rebellion, des kulturrevolutionären Aufstands gegen die Aufklärung und den französischen Geschmack gehandelt, als Phase des Übergangs von der Aufklärung zum Sturm und Drang, vom französischen Geschmack der Aufklärer zu dem von Johann Gottfried Herder propagierten Konzept einer spezifisch „deutschen Art und Kunst“. Als Vorläufer und Wegbereiter dieses Übergangs gilt der Aufklärer Gotthold Ephraim Lessing mit seiner angeblichen Kritik am französischen Theater und seiner Umorientierung des deutschen Theaters auf das Vorbild William Shakespeares, der hier als ein Autor nordisch-germanischer Abkunft kurzerhand der „deutschen Art und Kunst“ zugeschlagen wird. In Lessing will man den großen Propheten, den Moses einer deutschen Nationalliteratur aus der Zeit vor dem Sturm und Drang erblicken.
Vom Sturm und Drang zur Klassik
Der Sturm und Drang soll 1775 mit Goethes Schritt von Frankfurt nach Weimar, mit seiner Entscheidung für den Weimarer Hof, in die Weimarer Frühklassik übergegangen sein. Der erste rebellische Impuls ist vorüber, die Ansätze zu „deutscher Art und Kunst“ werden nun dadurch weiterentwickelt, daß sich die neue deutsche Literatur erneut an der Formkultur der Antike schult. Goethes italienische Reise von 1786/88 und der Ausbruch der Französischen Revolution 1788/89 sollen dann zur Weimarer Hochklassik übergeleitet haben, mit dem Höhepunkt des „klassischen Jahrzehnts“ der Jahre 1794 bis 1805, der Zeit der Zusammenarbeit Goethes mit Friedrich Schiller.
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Dieses „klassische Jahrzehnt“ soll vor allem durch zwei Momente gekennzeichnet sein: durch ein vertieftes Verständnis der Kunst der Antike, wie es Goethe aus Italien mitgebracht habe, und durch die Kritik an der Französischen Revolution. Den chaotischen Formen der Modernisierung im revolutionären Frankreich sollen Goethe und Schiller das Programm einer ästhetischen Erziehung entgegengestellt haben, das statt auf Revolution auf Reform, auf eine „organische