Geschichte der deutschen Literatur. Band 3. Gottfried Willems
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Biedermeier und Vormärz
In dieser Situation wurden die Autoren des „Vormärz“,26 die „Jungdeutschen“ 27 groß, die sich einerseits der Welt der romantischen Poesie verbunden fühlten und andererseits durch die Ideen der Französischen Revolution und die antifranzösische Agitation der „Befreiungskriege“ politisiert waren. Heinrich Heine (1797–1856) hat seit 1822 Gedichte veröffentlicht, mit großem Erfolg; seine Anfänge als Autor fallen wie die der meisten Jungdeutschen also noch in die Goethezeit. Neben den Jungdeutschen machte sich in der Literatur dann auch das sogenannte Biedermeier breit, halb der Klassik und halb der Romantik
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verbunden, dabei aber mehr oder weniger unpolitisch, jedenfalls auf den ersten Blick.28
Die erste große Erschütterung des „Systems Metternich“ ging wiederum von Frankreich aus, mit der Juli-Revolution von 1830, die hier die „Restauration von Thron und Altar“ beendete. Der „Bürgerkönig“ Louis Philippe kam an die Macht, Frankreich wurde zum Paradies einer Bourgeoisie, die sich ganz dem wissenschaftlichen Fortschritt und dem Kapitalismus verschrieben hatte, und zugleich zu einem relativ liberalen Land mit einer lebhaften Presse. Als solches wurde es zum Exil vieler politischer Emigranten, die vor dem „System Metternich“ aus Deutschland flohen. So wich etwa Heine 1831 nach Paris aus, um dort bis zum Ende seines Lebens zu bleiben. Der deutsche Vormärz blickte nach Paris, das nun erneut zu einer Brutstätte moderner Ideen wurde.
Und damit zurück zu dem Schema literarischer Epochen, wie es von der nationalen Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts ausgearbeitet worden ist, zu der Vorstellung vom Stufengang der deutschen Literatur von der Aufklärung über den Sturm und Drang und die Weimarer Frühklassik hin zum Gipfelpunkt des „klassischen Jahrzehnts“, und von da über Hoch- und Spätromantik wieder hinab zu den Epigonen von Klassik und Romantik, zu den „Biedermeiern“ und „Tendenzdichtern“ des Vormärz, und zurück zu der Frage, wo die Probleme dieses Epochenschemas liegen.
2.4 Revision des Epochenschemas
Lessing der Vorkämpfer einer „deutschen Nationalliteratur“?
Ein erstes problematisches Moment im überkommenen Bild der Epochenfolge, das hier nur gestreift werden kann, ist die Vorstellung von Lessing als dem großen Propheten und Vorkämpfer einer deutschen Nationalliteratur in Zeiten der Aufklärung. Wohl hat sich Lessing in seiner „Hamburgischen Dramaturgie“ (1767–1769) und einigen anderen
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Schriften gegen das „französische Theater“ ausgesprochen und ihm das Theater Shakespeares als Gegenmodell entgegengehalten, aber was meinte er konkret mit diesem zu überwindenden französischen Theater? Es war das Theater von Corneille, Racine und ihren Nachfolgern, das Theater des Klassizismus aus den Zeiten Ludwigs XIV. (1638–1715), also aus jener Epoche, die man im Blick auf die deutsche Literatur als Barock bezeichnet. Was Lessing dagegen vorzubringen hat, ist im Kern die Kritik eines Aufklärers an der Literatur des Barock. Und bei solcher Kritik stützt er sich ausdrücklich auf gleichgerichtete Bestrebungen französischer Zeitgenossen, insbesondere auf die Theaterschriften von Denis Diderot (1713–1784), dem er in Sachen Poetik ausdrücklich einen ähnlichen Rang zuerkennt wie Aristoteles.29 Im übrigen kann das Eintreten für den englischen Autor Shakespeare wohl kaum als Plädoyer für eine spezifisch deutsche „Art und Kunst“ gewertet werden. Lessing – das ist Aufklärung gegen Barock und nicht so sehr deutsche gegen französische „Art und Kunst“.
2.4.1 Sturm und Drang und Aufklärung
Spätaufklärung
Ein zweiter Kritikpunkt betrifft die Vorstellung vom Sturm und Drang 30 als einer besonderen Epoche, als der Epoche, in der die Aufklärung ein- für allemal „überwunden“ und durch etwas typisch Deutsches abgelöst worden sei. Als die große Zeit des Sturm und Drang werden vor allem die Jahre 1770 bis 1775 genannt. Nun sind aber viele Hauptwerke der Aufklärung erst später entstanden, Lessings berühmtestes Schauspiel „Nathan der Weise“ zum Beispiel erst 1781. Auch die meisten Arbeiten des Aufklärers Wieland, der zu seiner Zeit einer der meistgelesenen zeitgenössischen Autoren in Deutschland war, sind erst nach 1770 geschrieben worden. Die siebziger, achtziger Jahre sind eigentlich die Jahre der großen Wirkung von Wieland und Lessing, und mit dieser verglichen war und blieb die Resonanz
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dessen, was die Stürmer und Dränger – der Straßburger Kreis um Herder, der „Göttinger Hain“ – schufen, deutlich begrenzt, mit den beiden Ausnahmen von Goethes „Götz“ und „Werther“. Um dem Rechnung zu tragen, ist inzwischen für die siebziger und achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts der Begriff der Spätaufklärung 31 eingeführt worden. Von ihm aus erscheint der Sturm und Drang als eine literarische Bewegung, der es keineswegs gelungen ist, einer ganzen Epoche ihren Stempel aufzudrücken; den Grundcharakter der Epoche hat weiterhin die Aufklärung bestimmt.
Empfindsamkeit
Im übrigen ist zu fragen, inwieweit der Sturm und Drang überhaupt im Gegensatz zur Aufklärung des 18. Jahrhunderts steht, ob in ihm nicht bloß eine Sonderentwicklung, eine Unterströmung der Aufklärung zu sehen ist. Der Schlachtruf des Sturm und Drang, wie er etwa in der Rede Goethes zum Shakespeare-Tag niedergelegt ist, der Ruf nach Natur (HA 12, 226), war ja die Losung der gesamten Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Aufgeklärt zu sein, hieß hier vor allem, „vivere secundum naturam“, hieß „take Nature’s path, and mad Opinion’s leave“ (Alexander Pope);32 es hieß, auf die Natur zu setzen, insbesondere auf das, was am Menschen Natur ist und wodurch er Teil der Natur ist, auf seine Triebnatur, seine Instinkte, seine Sinne, sein Herz und seine Einbildungskraft. Der Mensch sollte nicht mehr in einen vernünftigen und einen triebhaften, einen rationalen und einen sinnlich-emotionalen Teil aufgeteilt werden, wie das der frühmoderne Humanismus im Zeichen des christlichen Menschenbilds und des Neustoizismus getan hatte, sondern es sollte deren ständigem Ineinandergreifen nachgegangen, sollte auf das Vernünftige an Sinnlichkeit und Gefühl und auf die Offenheit der Vernunft für das Natürliche gesetzt werden. Man nennt diese grundlegenden Tendenzen der Aufklärung des 18. Jahrhunderts auch Sensualismus und Sentimentalismus.
Als der Literaturgeschichtsschreibung die Bedeutung von Sensualismus und Sentimentalismus für die Literatur der Aufklärung endlich
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aufgegangen