Geschichte der deutschen Literatur. Band 3. Gottfried Willems
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Goethe war nie weniger klassisch als im Übergang zum „klassischen Jahrzehnt“, hat sich nie weniger am Geist und an der Kunst der alten Griechen orientiert als in eben den Jahren, die von der älteren Literaturgeschichtsschreibung als Übergang zur Hochklassik verbucht worden sind. Er schreibt Werke wie die politisch-satirischen Komödien „Der Groß-Cophta“ (1792), „Der Bürgergeneral“ (1793), „Die Aufgeregten“ (1794), wie die aufklärerisch radikalen, schneidend kritischen „Venetianischen Epigramme“ (1791) und die „Xenien“ (1796), wie den epischen
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Zyklus „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ (1794/95), in dem er die verschiedensten Gattungen und Formen des Erzählens durchprobiert und den man auch wie einen berühmten Text von Brecht „Flüchtlingsgespräche“ nennen könnte, wie die eigentümlich zwischen Epos, Idylle und Zeitgeschichte angesiedelte Verserzählung „Hermann und Dorothea“ (1796). Und da geht es überall ausdrücklich um die Revolution und ihre Folgen; auf die Antike und ihre Kunst hingegen verweist an diesen Werken nur wenig. Ähnliches gilt von den Hauptwerken dieser Zeit, von „Wilhelm Meisters Lehrjahren“ (1795/96) und „Faust I“ (1808); denn auch bei ihnen finden sich kaum Spuren der Antike.
Goethe ist offensichtlich durch die Französische Revolution und ihre Folgen zutiefst verunsichert. Es beginnt für ihn eine Phase des Suchens und Herumtastens, in der er es mit allen möglichen Themen und Formen versucht, insbesondere mit solchen, von denen er hofft, daß sie es ihm erlauben würden, „dieses schrecklichste aller Ereignisse in seinen Ursachen und Folgen dichterisch zu gewältigen“ (HA 13, 39). Er erprobt die verschiedensten Gattungen, modelt sie um und mischt sie mit anderen – fast möchte man von einem Experimentieren sprechen – und entfernt sich so besonders weit von dem, was der Kunst der Antike an reinen, vollendet schönen, in sich ruhenden Formen, an „edler Einfalt“ und „stiller Größe“ (Winckelmann)43 zugeschrieben worden ist. Schon allein deshalb ist das Epochenetikett „Hochklassik“ für diese Jahre mehr als problematisch.
Autonomie der Kunst als Distanz zur Zeitgeschichte?
Ein weiteres problematisches Moment der Doktrin von der „Hochklassik“ liegt in der Vorstellung, Goethe und Schiller hätten sich hier, um die Autonomie der Kunst, die geistige Unabhängigkeit des Künstlers von institutionellen und ideologischen Bindungen weiter voranzutreiben, zu dem Grundsatz bekannt, die Kunst solle sich von Zeitgeist und Zeitgeschehen fernhalten; große, klassische Kunst, Kunst von bleibender Bedeutung könne nur dort entstehen, wo der Künstler aktuelle politische Fragen meide und sich ausschließlich auf Formprobleme, auf die ordnende Arbeit der Formgebung konzentriere.
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Zweifellos bezeichnet das Ringen um Autonomie, um eine Kunst, die der freien Entfaltung des Denkens Raum gäbe und sich nur an die Gesetze gebunden fühlte, die sie sich selbst gäbe, eine grundlegende Tendenz in der Arbeit von Goethe und Schiller.44 Doch zeigt die große Zahl von Werken, die sich der Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution verdanken und die diese Auseinandersetzung bald mit großer Direktheit und bald auf eine mehr indirekte Weise bezeugen, daß dies für sie keineswegs bedeutet, jederzeit gegenüber dem aktuellen Zeitgeschehen Distanz wahren zu müssen. Autonomie heißt hier nach Ausweis von Goethes und Schillers eigener literarischer Praxis, daß der Künstler, wenn ihm danach ist, durchaus politisch werden kann, daß er es aber nicht muß, wenn ihm nicht danach ist; daß er weder einer moralischen Verpflichtung noch einem geschichtlichen Zwang unterliegt, mit politischen Leitartikeln in poetischer Form auf das Zeitgeschehen einzugehen.
Goethe ist wie Schiller noch weit von dem Prinzip „l’art pour l’art“ entfernt, von dem Gedanken, Kunst nur um der Kunst willen zu schaffen. Die Position des „l’art pour l’art“ hat sich ebenso wie die Gegenposition einer engagierten Kunst, einer „art engagée“, erst nach Goethe und ohne sein Zutun herangebildet; als ein Mann der Aufklärung hätte er mit ihr nicht viel anfangen, ja sie womöglich gar nicht verstehen können. Man hat sie aber, nachdem sie einmal da war, im Rückblick gerade ihm als einem Klassiker zugeschrieben. Zu den ersten, die damit begannen, gehört Heine (s. Kap. 4.5); aber hier irrte Heine. Die Idee des „l´art pour l´art“ kommt ebenso wie die einer „art engagée“ erst in der Generation Heines auf; was Goethe und Schiller sich unter autonomer Kunst vorstellen, hat damit noch kaum etwas zu tun.
Nationalismus vor 1806?
Ein weiterer Schwachpunkt im überlieferten Bild der Epoche der „Hochklassik“ ist, daß die Stellungnahmen zur Französischen Revolution hier zwar immer kritischer werden, vor allem im Blick auf die „Terreur“ der Jahre 1793 und 1794, daß diese Kritik an der Revolution zunächst aber noch kaum unter nationalem Vorzeichen steht. Man
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beklagt, daß die Ziele der Aufklärung im revolutionären Taumel mehr und mehr verrutschen und verlorengehen, aber man sucht die Ursachen dafür noch nicht primär in einem typisch französischen Unwesen, um dem typisch deutsche Werte entgegenzuhalten. Diese Sicht der Dinge gewinnt erst nach dem Ende des „klassischen Jahrzehnts“ 1805 die Oberhand, genauer gesagt: nach 1806, nach dem Sieg Napoleons über Preußen und Österreich, in der „Franzosenzeit“, der Zeit der französischen Vorherrschaft in Deutschland; sie ist im Kreis um Goethe und Schiller noch kaum wahrzunehmen.
Es waren vor allem die Verhältnisse in der Zeit der französischen Besatzung, die dem nationalistischen Denken zum Durchbruch verhalfen; erst die französische Fremdherrschaft hat den modernen deutschen Nationalismus ausgebrütet. Und zwar wurde er zunächst, in den Jahren 1806 bis 1813, besonders in den Kreisen der Gebildeten kultiviert, von den Intellektuellen, denen nun plötzlich etwas Tiefsinniges zum Begriff der „Deutschheit“ einfiel. Erst in den sogenannten Befreiungskriegen von 1813 bis 1815 konnte er schließlich auch von der in kriegerische Aktion versetzten breiten Masse der Bevölkerung Besitz ergreifen.
Die Zentren dieses neuen Denkens waren in erster Linie Universitätsstädte, Städte wie Heidelberg, wo Joseph Görres in nationalromantischem Sinne auf die junge Generation einwirkte und 1808 die „deutschen Volksbücher“ herausgab, und Berlin, wo Johann Gottlieb Fichte – ebenfalls 1808 – „Reden an die deutsche Nation“ hielt und wo eine „christlich-deutsche Tischgesellschaft“ den nationalen Gedanken pflegte. Hinzu kamen Epizentren wie Dresden, wo der Kleist-Freund Adam Müller im Winter 1806/07 „Vorlesungen über deutsche Wissenschaft und Literatur“ hielt; übrigens hat sich auch Kleist selbst zeitweise von der nationalistischen Propaganda in die Pflicht nehmen lassen. Aber das alles geschah eben erst nach 1806. Der Revolutionsdiskurs wird also gerade nicht im „klassischen Jahrzehnt“, sondern erst danach, in der Zeit der Heidelberger und Berliner Romantik, zu einer Plattform für Spekulationen über das französische und deutsche Wesen und für die Verpflichtung der deutschen Literatur auf dieses deutsche Wesen.
Aufbrechen des Gegensatzes von Klassik und Romantik
Vollends schwierig wird es mit der Vorstellung von einer Epoche namens „Hochklassik“, wenn man sich klarmacht, daß sich die deutsche Kultur, Kunst und Literatur im „klassischen Jahrzehnt“ gerade
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nicht auf jenes Ziel zu bewegt, in jene Verfassung hinein entwickelt haben, die sie laut Klassik-Doktrin eben hier erreicht haben sollen: daß nämlich alle, die an dieser Kultur produktiv teilhaben, nun endlich von ein und demselben Geist ergriffen, durchdrungen und zusammengebracht worden