Geschichte der deutschen Literatur. Band 3. Gottfried Willems
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heißt es bei Novalis; „(i)n uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft“ (NS 2, 419). Vor allem um innere Freiheit soll es nun gehen. Eben dies nennen die Romantiker tief, verstehen sie als einen tieferen Begriff von Freiheit. Solchen Tiefsinn werden sie bald schon typisch deutsch nennen und dem entgegenstellen, was sie an den Franzosen als oberflächlich politisch begreifen. Und das wiederum werden sie mit dem Namen Goethes verknüpfen und auf sein Werk als das Werk des ersten Klassikers der Deutschen projizieren – die Keimzelle der Klassik-Doktrin.
Vom Vorbild der Antike zum Vorbild des Mittelalters
In diesem Zusammenhang ist schließlich auch zu sehen, daß die Romantiker auf die präromantischen Tendenzen der Aufklärung und des Sturm und Drang zurückgreifen, um die Kunst vom Vorbild der Antike, an dem sie sich seit der Renaissance und noch durch das gesamte 18. Jahrhundert hindurch orientiert hat, zum Vorbild des Mittelalters umzudirigieren. Was die Kunst der alten Griechen zu bieten hat, ist den Romantikern nicht tief genug; will sagen: was die griechische Kunst an Individualität und Subjektivität und insbesondere an jenem subjektiv-individuellen Phantasieren zu bieten hat, durch das sich das Ich allererst in den Vollbesitz seiner inneren Freiheit setzen können soll, geht ihnen nicht weit genug. Den Griechen fehlt in ihren Augen die reiche, tiefe, geheimnisvolle Innerlichkeit. Ihre Kunst ist für sie nur sinnlich und nicht übersinnlich, sie bleibt an den festen, klaren Formen der Natur haften, bleibt im Natürlichen, im Wirklichen stecken und bekommt das Übernatürliche nie wirklich zu Gesicht.
Da hat das Mittelalter den Romantikern mehr zu bieten. Erst im Mittelalter soll sich dem Menschen das Reich der Innerlichkeit voll und ganz erschlossen haben, in jener religiösen Kultur der Weltverachtung, in der der Christ sich auf Gott und das Jenseits zu leben weiß. Hier erst, in der mittelalterlichen Welt des Glaubens und der Glaubenswunder, soll die menschliche Phantasie ihre ganze Macht entfaltet haben, in all den Wundergeschichten, den Sagen, Märchen und Heiligenlegenden, in denen sie die materielle, sinnlich erfahrbare Welt hinter und unter sich läßt, um in ihr eigenes Reich heimzukehren. Hier vor allem wollen die Romantiker die Vorbilder für ihr „Poetisieren“ finden. Natürlich wissen sie, daß auch die Griechen ihre Mythen, ihre wunderbaren Geschichten von Göttern, Halbgöttern und allerlei phantastischen Fabelwesen hatten. Aber an diesen Mythen fehlt ihnen
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das persönliche, subjektive, innerliche, ichhafte Moment; sie sind für sie bloß kollektive Phantasieprodukte, Produkte einer gleichsam objektiven Phantasie, und auf das Subjektiv-Individuelle des Phantasierens kommt es ihnen ja vor allem an.
Soweit das Programm der Jenaer Frühromantik, wie es in den Schriften von Friedrich und August Wilhelm Schlegel und von Novalis niedergelegt ist. Inwieweit bedeutet dieses Programm nun, daß sich die Frühromantik von der Weimarer Klassik, von Goethe und seinem Kreis entfernt? Wo liegen in ihm vielleicht noch Momente der Nähe, wie sie die anfängliche Berufung auf Goethe plausibel machen können, und womit führt es von der Weimarer Klassik fort, gestaltet es sich zu einer Gegenposition, um nicht zu sagen: zum Programm einer Gegenklassik?
Die Aufwertung der Einbildungskraft durch die Aufklärung
Um hierauf eine Antwort finden zu können, muß man sich zunächst klarmachen, wie hier wie dort mit dem Erbe der Aufklärung verfahren wird. Wenn die Frühromantiker die Phantasie in den Mittelpunkt ihrer Poetik und ihres Menschenbilds rücken, dann knüpfen sie damit an eine Entwicklung an, die das gesamte 18. Jahrhundert durchzogen hat, an die Aufwertung der „Einbildungskraft“, wie sie von der Kunst- und Literaturtheorie der Aufklärung auf den Weg gebracht worden ist.49 Diese Aufwertung beginnt spätestens mit einer Abhandlung über „The Pleasures of the Imagination“, die Joseph Addison (1672–1719) 1712 in einer der wichtigsten Zeitschriften der Frühaufklärung in England, dem „Spectator“, veröffentlicht hat, ein Beitrag, der von den Schweizern Johann Jakob Bodmer (1698–1783) und Johann Jakob Breitinger (1701–1776) in ihrer eigenen Zeitschrift „Discourse der Mahlern“ (1721–1723) ins Deutsche übersetzt und damit im deutschen Sprachraum bekannt gemacht worden ist.
In diesem verstärkten Setzen auf die „Einbildungskraft“ läuft alles zusammen, was die Aufklärer an der Literatur-Konzeption des frühneuzeitlichen Humanismus zu kritisieren haben und wodurch sie der Literatur neue Ziele setzen. Anders als dort soll der Dichter nun nicht mehr so sehr belehren, eine gelehrte Bildung, insbesondere ein
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gelehrtes Wissen über den Menschen und über die Tugend vermitteln, als vielmehr sein Publikum unterhalten; und dem soll er vor allem dadurch genügen können, daß er die Phantasie in Bewegung setzt, die „Pleasures of the Imagination“ kultiviert.
Über solcher unterhaltlichen Aktivierung der Phantasie sollen sich die Gemütskräfte des Menschen – sinnliche Wahrnehmung, Gefühl, Witz, Scharfsinn – auf eine Weise entfalten können, zu der sie im wirklichen Leben kaum je Gelegenheit erhalten. So soll die Literatur den Menschen dahin führen, daß er alle diese Gemütskräfte in sich arbeiten spürt und sich darüber in seinen menschlichen Potentialen besser kennen lernt; daß er das, was den Menschen zum Menschen macht, unmittelbar an sich selbst erfahren, der „allgemeinen Menschennatur“, des „Allgemein-Menschlichen“ in der Selbsterfahrung unmittelbar innewerden kann. Kunst und Literatur sollen also nun nicht mehr so sehr auf die Vermittlung eines Wissens über den Menschen ausgehen, das von der Vernunft eingesehen werden will, denn vielmehr das Innewerden des „Allgemein-Menschlichen“ in der imaginären Selbsterfahrung ins Werk setzen.
Dieses aufklärerische Konzept von Literatur ist in Deutschland zuletzt vor allem von Lessing und Wieland ausgearbeitet und umgesetzt worden. Nach ihrer Vorstellung kommt nun alles darauf an, eine Geschichte so in die Phantasie des Lesers „hineinzumalen“, daß er sich in die dargestellten Figuren einfühlen, sich mit ihnen identifizieren und von daher in der Phantasie all die Regungen der Gemütskräfte miterleben kann, die an ihnen vorgeführt werden; daß er also selbst in Wallung gerät und so an sich selbst erfahren und sich bewußt machen kann, was der Mensch an Bewegungspotentialen in sich hat.
Der neue Geist des Aufs-Ganze-Gehens
An diese Vorstellung von den Aufgaben und Möglichkeiten der Poesie knüpft die Frühromantik an, aber sie tut dies auf eine Weise, die den Aufklärern selbst niemals in den Sinn gekommen wäre. Sie treibt sie nämlich auf die Spitze, sie radikalisiert sie, indem sie den Menschen nun ganz und gar von der Phantasie her denkt und die Phantasie absolut setzt. Damit ist ein entscheidender Punkt berührt, ein Moment, von dem her die Aufklärung des 18. Jahrhunderts allmählich an ihr Ende kommt und durch etwas Neues verdrängt wird. Dieses Neue können und wollen sich freilich zunächst noch nicht alle zueigen machen; zumal die Weimarer Klassik hat sich ihm mit
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Entschiedenheit verweigert, so daß sich die Literatur nun mehr und mehr gespalten hat und in allerlei Widersprüchen und Kontroversen auseinandergelaufen ist. Man könnte dieses Neue den Geist der Radikalisierung nennen, den Geist des Aufs-Ganze-Gehens, oder, in kritischer Wendung, „Totalitätsobsession“ – ein Zug, der der Aufklärung fremd war, ja den sie gerade als Aufklärung meinte bekämpfen zu müssen. So daß an der Aufklärung festhalten wollen nun vor allem heißt, die Menschen vor dem neuen Geist der Radikalisierung, des Aufs-Ganze-Gehens, vor Extremismus und Totalitarismus bewahren wollen.
Die Vorstellungen und Anliegen der Aufklärung werden in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts zunehmend auf die Spitze getrieben, ins Extrem geführt und verabsolutiert, so wie der Phantasiebegriff in der frühromantischen Ästhetik. Es geht nun immerzu ums große Ganze, so