Geschichte der deutschen Literatur. Band 3. Gottfried Willems
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2.4.3 Jenaer Frühromantik und Weimarer Klassik
Die Frühromantiker
In eben den Jahren, in denen Goethe und Schiller ihre Zusammenarbeit begründen, beginnt mit der Jenaer Frühromantik zugleich auch die romantische Bewegung.45 Seit 1795 treffen die jungen Leute, die die Romantik auf den Weg bringen sollten, in Jena ein. Sie kommen, um den Philosophen Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) zu hören, aber auch um die Nähe von Goethe zu suchen. Als erster kommt August Wilhelm Schlegel (1767–1845), dann sein jüngerer Bruder Friedrich Schlegel (1772–1829), dann Ludwig Tieck (1773–1853), und sie kommen mitsamt ihren Damen; gelegentlich stößt Friedrich von Hardenberg (1772–1801) zu ihnen, der sich als Dichter den Namen Novalis gibt und der schon vor den anderen in Jena studiert hat. Um 1800 fliegt
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das Grüppchen dann schon wieder auseinander, aber bis dahin ist viel geschehen. Die Bewegung ist konsolidiert und kann sich kreuz und quer durch Deutschland ausbreiten.
Klassik und Romantik
In dem Jenaer Kreis ist nun etwas entstanden, das durchaus in eine andere Richtung zielte als das, was Goethe, Schiller und ihre Mitstreiter wollten und unternahmen, etwas, das sich mit deren Bestrebungen kaum vereinbaren ließ, und doch sollen beide Gruppen gemeinsam für die Blütezeit der deutschen Nationalliteratur einstehen. Was ihr Verhältnis so kompliziert macht, ist, daß die Ideen, von denen aus Goethe und Schiller zu klassischen Nationalautoren der Deutschen stilisiert wurden, im Rahmen der literarisch-ästhetischen Programmatik der Frühromantik entwickelt worden sind, daß dies allerdings Ideen sind, die von Goethe und Schiller nicht geteilt wurden. Das Konzept einer deutschen Klassik ist im Grunde das Resultat eines großen Mißverständnisses.
Das Programm der Frühromantik
Die Anfänge der romantischen Bewegung 46 sehen zunächst noch nach einem engen Anschluß an Goethe aus. Friedrich Schlegel hat die Konstellation, in der die Romantik entstanden ist, einmal in das Bonmot gefaßt: „Die Französische Revoluzion, Fichte’s Wissenschaftslehre, und Goethe’s Meister sind die größten Tendenzen des Zeitalters“.47 Das ist wie bei so vielen Aphorismen von Schlegel zunächst nicht mehr als eine kühne Behauptung, doch gibt sich darin zu erkennen, was für die Romantiker selbst die wichtigsten Ansatz- und Orientierungspunkte ihres Programms waren. Und dazu gehören nun eben auch Goethe und sein Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“; und zwar werden sie hier auf eine Weise beschworen, durch die ihnen eine geschichtliche Bedeutung zugesprochen wird, die mit der der Französischen Revolution vergleichbar sein soll. Bei näherem Zusehen kann man
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freilich entdecken, daß in Schlegels Aphorismus schon der Bruch mit Goethe lauert.
Zunächst macht er allerdings deutlich, daß die Frühromantiker wie Goethe, Schiller und all die anderen zeitgenössischen Autoren auf die Französische Revolution starren, daß sie das, was sie als Literaten treiben, im Blick auf die Revolution definieren. Auch sie wollen eine Revolution ins Werk setzen, als Gegenentwurf zu dem, was in Frankreich geschieht, eine durchaus anders geartete, nämlich eine geistige Revolution, eine Kulturrevolution. Als deren Leitsterne erwählen sie sich eben Goethe und Fichte.
Freiheit tiefer denken
Die Maxime der Französischen Revolution lautet bekanntlich: „Liberté, Egalité, Fraternité“, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. An der ersten Stelle steht die Forderung nach Freiheit, und das heißt hier: nach der Freiheit des Individuums. Diese Freiheit soll nun durch das Rechtssystem eines Rechtsstaats garantiert und bis hin zu verfassungsmäßigen Rechten der Mitwirkung am politischen Geschehen weiterentwickelt werden. Freiheit bedeutet hier mithin zunächst und vor allem die rechtliche Absicherung und Förderung der Individualisierung, wie sie sich im Zuge der Modernisierung eingestellt hat und ohne solche Modernisierung nicht zu denken ist.
Die Frühromantiker greifen nun den von der Revolution herausgestellten Begriff der Freiheit des Individuums auf, um ihn noch einmal neu und „tiefer“ zu denken als die zeitgenössische französische Politik. „Tiefer“ zu denken heißt für sie aber vor allem, den Begriff der Freiheit mit dem der Phantasie zu verknüpfen. Die Romantiker ziehen den Freiheitsbegriff aus dem Bereich der Politik und des Rechts in den der Kunst, der Ästhetik, wo die Phantasie zu Hause ist. Ich will frei sein, um mir selbst leben und ganz ich sein zu können, und ganz ich zu sein heißt hier zunächst und vor allem, seiner Phantasie leben zu können, in seinem ureigensten Phantasieleben ganz bei sich selbst anzukommen, den innersten Quellen der „Ichheit“, der Subjektität nahekommen und sie ausleben zu können.
Dieser Ansatz führt die Romantiker zu Fichte und zu Goethe. Fichte ist der Philosoph des Ichs, der die Welt in der Nachfolge Kants vom Ich her denkt, von einer Subjektivität her, die der materiellen Welt, der Natur, der Gesellschaft, dem Erfahrbaren überhaupt immer schon vorausliegen soll; so haben ihn jedenfalls die Romantiker gelesen. Und
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was die Phantasie ist und kann, also wie man ich und frei sein kann, zeigen ihnen Goethe und sein Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“. In ihm erblicken sie die bedeutendste Manifestation des phantasierenden Individuums in der modernen Kunst, jedenfalls zu Anfang, bei seinem Erscheinen; später werden sie das anders sehen. Da wird es dann heißen, Goethe habe im Wilhelm Meister die Phantasie an die „Ökonomie“ – die Landwirtschaft – verraten; so ist es zum Beispiel bei Novalis zu lesen (NS 3, 638–639). Wilhelm Meister beendet seine Lehrjahre ja in einem Kreis von Gutsherren, die ihre Güter im Geist aufklärerischer Reformen bewirtschaften.
„Progressive Universalpoesie“
Demgemäß bedeutet für die Romantiker von Freiheit zu reden zunächst und vor allem, von dem zu reden, was Friedrich Schlegel „progressive Universalpoesie“ nennt.48 Jede Erfahrung, jede Erkenntnis und Handlung des Menschen, jede menschliche Wirklichkeit kann von der Phantasie überstiegen und überboten werden, und jedes Phantasiegebilde von weiteren, neuen Phantasien. In dieser unendlichen Progression des Phantasierens, die alles, was schon einmal Gestalt angenommen hat, alles Endliche hinter sich läßt, komme ich aber allererst recht bei mir selbst an, erfahre ich mich allererst ganz in meiner Freiheit als Subjekt. Die eigentliche Revolution, der entscheidende Schritt in die Moderne ist deshalb für die Romantiker, die Phantasie zu entfesseln und damit der Subjektivität jede Fessel zu nehmen, das Ich seiner vollen, uneingeschränkten und durch nichts zu begrenzenden Freiheit innewerden zu lassen. Eben dies nennen die Romantiker das „Poetisieren“. Und in diesem Sinne fordern sie eine romantische Poesie als eine Welt von poetischen Erfindungen, von Phantasieexperimenten, in denen erkundet wird, wie weit die Phantasie des Menschen und damit die Freiheit des Individuums zu gehen vermag.
Hier zeigt sich nun auch, was es bedeutet, wenn der Begriff der Freiheit aus dem politischen in den ästhetischen Raum gezogen wird. Er verliert dabei seine konkrete