Geschichte der deutschen Literatur. Band 3. Gottfried Willems
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Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts hat Radikalismus und Extremismus verabscheut und statt dessen einem skeptischen Pragmatismus gehuldigt. Der Mensch ist für sie ein unvollkommenes, schwaches, zu Irrtümern und Fehlern neigendes Wesen; es bekommt ihm nicht, ja bringt ihn in höchste Gefahr, wenn er in seiner Fehlbarkeit aufs Ganze geht und nach dem Absoluten greift; er hat allen Grund, bescheiden zu sein, im Denken wie im Handeln, und natürlich auch in seinem Phantasieren. „The pride of aiming at more knowledge, and pretending
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to more perfection, (is) the cause of man’s error and misery“, heißt es im „Essay on Man“ von Alexander Pope,51 einem der meistübersetzten und meistgelesenen Werke des 18. Jahrhunderts: der Stolz, mit dem der Mensch auf mehr Wissen und auf Perfektion ausgeht, ist die Ursache seiner Irrtümer und seines Elends.
Nie wird der Mensch „erkenne(n), was die Welt im Innersten zusammenhält“, wie es in der Eingangsszene von Goethes „Faust“ heißt (HA 3, 20) – „Faust“ ist, wie wir noch sehen werden, zunächst und vor allem das Drama des Menschen, der aufs Ganze geht, die Gestalt Fausts ist die Inkarnation der neuen „Totalitätsobsession“ – und ebensowenig wird er die Entwicklungsprozesse der Gesellschaft jemals als ganze in den Griff bekommen. Deshalb soll er die Extreme meiden und nach dem „goldenen Mittelweg“ suchen, nach dem rechten Maß, das ihn in einem ihm gemäßen Rahmen irgendwo zwischen Himmel und Hölle trotz allem erfolgreich sein und sein Glück finden läßt. „Anstatt mit einander zu hadern, wo die Wahrheit sey? (…) lasset uns in Frieden zusammen gehen (…)“ (Wieland).52
Dieser skeptische Pragmatismus der Aufklärung wird nun in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts zunehmend in Frage gestellt, beginnend mit der Französischen Revolution, mit den Radikalen und Extremisten unter den Revolutionären. Natürlich wenden sich nicht alle gleichzeitig von ihm ab, viele wollen weiterhin an ihm festhalten, ja fühlen sich gerade angesichts der neuen Sehnsucht nach der Totalität, dem neuen Geist des Aufs-Ganze-Gehens und dessen praktischen Folgen in ihm bestärkt. Aber aus dieser Haltung wird nun eben eine Verteidigungsstellung, weil so viele und immer mehr von ihr abgehen.
Die Forderung nach dem „Großen und Ganzen“ im Sturm und Drang
In der deutschen Literatur hat sich der Geist des Aufs-Ganze-Gehens zum ersten Mal im Sturm und Drang zu Wort gemeldet. Wenn sich denn so etwas wie eine zentrale, alle Stürmer und Dränger verbindende Vorstellung benennen läßt, dann ist es der Gedanke, der in der Formel „ganz und groß“ (HA 12, 225) niedergelegt ist,
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wie sie Goethes Rede „Zum Shakespeares-Tag“ (1771) durchzieht. Der Stürmer und Dränger sucht das „Große und Ganze“, ja er möchte selbst „groß und ganz“ sein. Er will nicht mehr im Gedanken an die Unvollkommenheit des Menschen, an die Grenzen seiner Vernunft und die Schwachheit und Fehlbarkeit seines Handelns „bescheiden“ sein müssen, will sich nicht mehr auf das verpflichten lassen, was andere das rechte Maß und den goldenen Mittelweg nennen. Ihn interessiert allein das Extrem der Größe; insofern sucht er nach einer Sprache des Enthusiasmus, die es seiner Dichtung erlauben würde, wahrhaft aufs Ganze zu gehen.
Ein neues Interesse an Helden
In diesem Sinne entwickelt der Sturm und Drang auch ein neues Interesse an Heldenfiguren. Die Aufklärung hat sich durchweg kritisch gegenüber einer Literatur verhalten, die wie die des Humanismus und des Barock Helden verherrlicht. Lessing hat „mittlere Helden“ gefordert und auf die Bühne gestellt. Ein Held ist bekanntlich einer, der ohne Rücksicht auf Verluste aufs Ganze geht, der dabei auch das Scheitern riskiert, der keine Kompromisse macht und seinen Prinzipien treu bleibt bis in den Tod. Im Sturm und Drang sind solche Heldenfiguren wieder zu literarischen Ehren gekommen.
Allerdings – und insofern bleibt der Sturm und Drang dann doch der Position der Aufklärung verpflichtet – lassen die Dichter des Sturm und Drang ihre Helden, ihre großen Männer allesamt scheitern, von Goethes „Götz von Berlichingen“ (1773) bis zu den Helden von Schillers „Die Räuber“ (1781), „Die Verschwörung des Fiesco zu Genua“ (1783) und „Kabale und Liebe“ (1784). Und zwar lassen sie sie nicht nur an einer modernen Umwelt scheitern, in der kein Platz mehr für ein Heldentum nach dem Maß der heroischen Antike ist, sondern sie lassen sie auch an sich selbst scheitern, an der Heldenrolle, die sie – sei es aus Begeisterung für eine große Sache oder um des Ruhms und der Ehre willen – auf sich nehmen. Sie erleben alle ein Ende mit Schrecken, sind am Ende physisch oder moralisch ruiniert. Und dennoch, trotz eines Scheiterns, das aus der Verblendung durch die Idee des Groß-und-ganz-sein-Wollens erwächst, umgibt die Helden des Sturm und Drang eine Aura der Faszination.
Ein neues Interesse an großen Gefühlen
Mit dem neuen Interesse am Heldentum geht ein nicht weniger neues Interesse an der großen Leidenschaft einher. Der Sentimentalismus, die Empfindsamkeit der Literatur der Aufklärung wächst sich
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im Sturm und Drang zum Kult des großen, existentiellen Gefühls aus, eines Gefühls, das „groß und ganz“ sein will. Die kleinen Freuden und zärtlichen Regungen, die sanften Tränen, das Getändel und Gezärtel, das die Empfindsamkeit in ihren Idyllen und Romanen, bürgerlichen Trauerspielen und rührenden Lustspielen kultiviert hat, gelten dem Sturm und Drang nichts mehr; er vermag in ihnen nurmehr noch eine Kinderei zu erblicken. Für ihn muß es immer gleich die große Leidenschaft und die extreme Begeisterung sein. Selbst wenn der Stürmer und Dränger sich bloß aufmacht zu einem nächtlichen Besuch bei seiner Liebsten, führt er sich „wild“ auf „wie ein Held“, der in die „Schlacht“ zieht; so Goethe in dem Gedicht „Es schlug mein Herz“ (1771), dem er später den Titel „Willkomm und Abschied“ gegeben hat (HA 1, 27). Wie um das Groß-und-Ganz-Sein kreist die Dichtung des Sturm und Drang unausgesetzt um den Absolutheitsanspruch des Gefühls.
Allerdings wird dieser Anspruch des Gefühls auf absolute Geltung hier ebenso wie das Heldentum als etwas Ambivalentes dargestellt; mag es auch noch so faszinierend sein, so erweist es sich zugleich doch auch als problematisch. Dafür ist gerade Schillers „Kabale und Liebe“ ein gutes Beispiel. Der Art und Weise, wie der Held Ferdinand mit seiner Liebe aufs Ganze geht (SW 1, 766–767, 774, 792–793, 807–808), überspringt den geliebten Menschen, wie er wirklich ist, und entpuppt sich am Ende als zerstörerische Obsession eines egomanen Gutmenschen. Auch hier wird der Standpunkt der Aufklärung mithin nicht wirklich verlassen.
Sturm und Drang und Aufklärung
Der Sturm und Drang testet die Grenzen des aufklärerischen Denkens aus, doch er überschreitet sie nicht. Und auch wenn man dem alten Epochenschema folgen und anerkennen wollte, daß der Sturm und Drang diese Grenzen gesprengt und die Aufklärung hinter sich gelassen hätte, bliebe immer noch zu fragen, wie man wissenschaftlich begründen wollte, daß es sich dabei um ein Verhältnis der „Überwindung“ gehandelt hätte, also um einen Fortschritt, ein Bessermachen, einen Schritt zu mehr Wahrem-Gutem-Schönem. Wie wollte man wohl wissenschaftlich entscheiden, was von beidem als die größere Kinderei zu gelten hätte, das Gezärtel und Getändel der empfindsamen Idylle oder der Kult des Heldischen und der großen Leidenschaft im Sturm und