Geschichte der deutschen Literatur. Band 3. Gottfried Willems
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Deshalb will die Frühromantik auch die Kunst vom Vorbild der Griechen auf das des Mittelalters umdirigieren. Nach ihrer Auffassung klebt die griechische Kunst mit ihrer Natürlichkeit und ihrem Realitätssinn am Sinnlichen, während das Mittelalter die Fesseln der sinnlichen Welt, der Natur, der Wirklichkeit dank seiner Religiosität und seines Wunderglaubens immer schon hinter sich gelassen hat, immer schon übersinnlich, übernatürlich, wunderbar, phantastisch und innerlich ist.
Abrechnung mit der Aufklärung
Mit eben diesen Gesichtspunkten versucht sich die Frühromantik an einer Generalabrechnung mit der Aufklärung. Die Grundforderung der Aufklärung zielt ja eben auf Natur, auf das Natürliche; Dichtung soll für sie vor allem natürlich sein, soll den Menschen auf die natürlichste Weise zur Natur zurückführen und ebensowohl mit seiner Triebnatur wie mit seiner Vernunftnatur bekannt machen. Das ist den Romantikern zu wenig. Nur im Übersteigen der Natur, im Übernatürlichen, Übersinnlichen, in der Hinwendung zum „Wunderbaren“ kann sich die menschliche Phantasie wahrhaft entfalten und damit das Ich „groß und ganz“ werden lassen. Die „Rehabilitation der Sinnlichkeit“, wie sie der gesamten Aufklärung und zuletzt vor allem Wieland ein zentrales Anliegen war, wird von der Romantik als schlüpfrig und frivol denunziert, und Wieland als loser Vogel und erotischer Schmutzfink. An der Lösung von der Sinnlichkeit, am Übersinnlichen, Wunderbaren soll nun alles gelegen sein.
Die Entdeckung des „Wunderbaren“ durch die Poetik der Aufklärung
Freilich, wie den Begriff der Phantasie, der „Einbildungskraft“, so verdankt die Romantik auch den Begriff des „Wunderbaren“ der Aufklärung. Denn schon hier ist er zu einem zentralen Begriff der Poetik geworden.53 Die Romantiker übersehen, daß die von ihnen als
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Spitzenprodukte der menschlichen Phantasie bestaunten Wundergeschichten des Mittelalters – daß edle Ritter mit Drachen, Riesen und Zauberern kämpfen, daß in verfallenen Gemäuern des Nachts Geister ihr Unwesen treiben, daß Heilige mit ihren Glaubenstaten die Naturgesetze außer Kraft setzen – im Verständnis des Mittelalters selbst nicht als Phantasieprodukte gegolten haben, sondern als Geschichten von wahren Begebenheiten. Erst im Horizont der Aufklärung werden sie zu Produkten der menschlichen Phantasie.
Als solche können sie nämlich erst begriffen werden, nachdem sie von der aufklärerischen Frage nach der Natur und den Naturgesetzen aus als Ausgeburten des Aberglaubens entlarvt worden sind. So etwas kann doch nicht wirklich geschehen – so der aufgeklärte Kopf – daß ein Heiliger seinen Pilgerhut an einem Sonnenstrahl aufhängt; es widerspricht den Naturgesetzen. Es kann sich dabei also nur um einen Fall von Aberglauben handeln, um eine vom Menschen erfundene Geschichte, will sagen: um eine Ausgeburt der menschlichen Phantasie. Erst die aufklärerische Kritik am Wunderglauben als Aberglauben macht aus der Wundergeschichte ein Produkt der Phantasie und damit etwas Poetisches; vorher gilt die Wundergeschichte als Sachgeschichte. Erst durch die Aufklärung wird das Wunderbare zu einer Sache der menschlichen Phantasie und damit zu einer Kategorie der Poetik.
Und in diesem Sinne hat die Poetik der Aufklärung seit Bodmer und Breitinger 54 sogar ausdrücklich gefordert, ein Werk der Poesie müsse wunderbar sein, allerdings mit einer Einschränkung, die die Romantiker dann nicht mehr gelten lassen, mit dem Beding, daß es nicht ausschließlich wunderbar, daß es zugleich auch „wahrscheinlich“ sei. Der Begriff des Wunderbaren wird an den des Wahrscheinlichen gekoppelt. Wunderbar soll eine Dichtung sein und allerlei „Neues“, Ungewöhnliches, Überraschendes, Staunenswertes zu bieten haben, damit sie der Leser interessant finden und sich von ihr fesseln lassen kann. Und wahrscheinlich soll sie sein, damit er sich überhaupt etwas vorstellen kann, damit sich seine Einbildungskraft dann auch wirklich in Bewegung setzt. Denn nur von realen Erfahrungen her soll man sich etwas vorstellen können, nur dadurch, daß die Phantasie Erfahrenes aus der
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Erinnerung abruft, um es nach ihren eigenen Bedürfnissen umzugestalten. Wenn eine Geschichte zu unwahrscheinlich, zu hanebüchen werde, dann werde die Einbildungskraft des Lesers überfordert, werde er über sie den Kopf schütteln und das Buch zuschlagen.
Man mag mit diesem Postulat der aufklärerischen Poetik selbst einmal die Probe aufs Exempel machen, indem man sich das Klingsohr-Märchen aus Novalis großem Roman „Heinrich von Ofterdingen“ (1802) zu Gemüte führt (NS 1, 290–315). Kann man sich all das, was da erzählt wird, noch vorstellen, ja will man es sich überhaupt vorstellen? Denn bei diesem Märchen handelt es sich um einen Versuch, die Forderungen der Wahrscheinlichkeit so weit wie möglich außer Kraft zu setzen; was da erzählt wird, soll so unwahrscheinlich sein wie nur irgend möglich, soll die Phantasie aufs äußerste herausfordern. Kann meine Phantasie, will sie dem noch folgen?
Die Lösung des „Wunderbaren“ vom „Wahrscheinlichen“
Was immer bei einer derartigen Lektüre herauskommen mag – jedenfalls hat die Romantik die Koppelung des Wunderbaren an das Wahrscheinliche als poetischen Kleinmut verworfen. Wenn den Leser bei der Lektüre einer Erzählung irgendwann das Gefühl ereilt, den Boden unter den Füßen zu verlieren, wenn er nicht mehr recht weiß, was Wirklichkeit ist und was Traum, wie ihm das zum Beispiel bei der Lektüre der Werke von Ludwig Tieck und E. T. A. Hoffmann immer wieder widerfahren wird, dann ist er eben dort angekommen, wo ihn der Romantiker hat hinführen wollen. In solchen Momenten soll er spüren, daß es noch mehr gebe als das Wirkliche, Natürliche, Sinnliche, Endliche, daß er innerlich für das Unendliche offen sei. Man mag sich das an Hoffmanns berühmter Erzählung „Der Sandmann“ (1816) vergegenwärtigen, wo dank einer raffinierten Erzählregie immer wieder die Grenzen zwischen der Realität und der Phantasiewelt des Helden Nathanael verschwimmen.
Die Aufklärung wiederum hat ein solches Abheben der Phantasie vom Boden der Natur als „Schwärmerei“ gegeißelt, als eine Art Krankheit, zu der sich ein ungutes Zuviel an Innerlichkeit auswachsen könne, als eine Gefahr für das, was man heute Selbstverwirklichung nennt. Über dem Schwärmen soll dem Ich drohen, sich immer tiefer in sich selbst einzuschließen, um sich am Ende im Labyrinth des eigenen Inneren zu verlieren und brütend in sich selbst zu verglühen. Deshalb gilt es hier als Aufgabe der Poesie und gerade der Poesie als der höchsten
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Form der Phantasietätigkeit, das moderne Ich durch „Schwärmerkuren“ vor dem Absturz nach innen zu bewahren und auf den Boden der Natur zurückzubringen. Ganz anders die Romantik; für sie ist der Mensch nur da ganz Mensch, wo er schwärmt. Wer nicht schwärmen kann, ist für sie nur ein trüber Gast auf Erden, ein „Philister“, ein „Spießer“, und als ein solcher Routinier der Alltäglichkeit mehr ein Tier, mehr eine Maschine, ein „Automat“ als ein Mensch.55
Mit dieser Auffassung von Poesie sind die Romantiker zu Entdeckern im Reich des Unbewußten und der Psyche überhaupt geworden. Kaum ein Autor vor ihnen hat die „Nachtseiten“ der menschlichen Natur schon so intensiv auszuleuchten vermocht wie sie. Wenn man so will, hat die Romantik das Pathologische poetisiert; das ist ihre große Stärke. Ein besonders überzeugendes Beispiel dafür ist E. T. A. Hoffmann. Wie er sich bei der zeitgenössischen Medizin und „Erfahrungsseelenkunde“ über Phänomene der Psychopathologie informiert hat, so sind seine Erzählungen später zu einer Inspiration für den Begründer der modernen Psychologie Sigmund Freud geworden.
Klassik und Romantik
Wie bereits dargelegt, haben die Frühromantiker dieses ihr philosophisch-poetologisches Programm – Entfesselung der Subjektivität, Verabsolutierung der Phantasie,