Geschichte der deutschen Literatur. Band 3. Gottfried Willems
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Was nun die sogenannte Weimarer Frühklassik 40 der Jahre 1775 bis 1786 bzw. 1794 anbelangt, so läßt sie sich ohne wesentliche Einbußen unter die Begriffe der Aufklärung und der Empfindsamkeit abbuchen. Daß einige aus der kleinen Gruppe von Literaten, die die Bewegung des Sturm und Drang bildeten, nun die gesamte Palette aufgeklärt-empfindsamer Themen und Formen für sich entdeckten, wie sie von der Literatur um sie herum kultiviert worden war, kann wohl kaum dazu herhalten, eine neue Epoche auszurufen. Die Kulturpolitik des Weimarer Hofs um die Herzoginmutter Anna Amalia und den Herzog Carl August, die Schaffung eines „Musenhofs“ durch die Berufung großer Geister wie Wieland, Goethe und Herder war ja ein typisches Projekt aufgeklärter Fürstenpolitik. Goethe und Herder arbeiteten, nachdem sie in Weimar angekommen waren, sofort eng mit Wieland zusammen, unbeschadet der Kontroversen und Irritationen, die zuvor ihr Verhältnis zu Wieland bestimmten; es stellte sich heraus, daß es zwischen ihnen keinen grundsätzlichen Dissens gab. Und wenn man ein Hauptwerk der „Weimarer Frühklassik“ wie Goethes „Iphigenie auf Tauris“ (1787), eine Arbeit, die Wieland intensiv begleitet und begeistert begrüßt hat, oder Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (1784–1791) und „Briefe zur Beförderung der Humanität“ (1793–1797) zur Hand nimmt, wird man unschwer feststellen, daß in Weimar damals nichts anderes als die Sache der Aufklärung und der Empfindsamkeit verhandelt wird.41
2.4.2 Das „klassische Jahrzehnt“
Von der „Frühklassik“ zur „Hochklassik“
Die nächste epochale Stufe in der Entwicklung der deutschen Literatur soll nun mit dem Übergang von der „Weimarer Frühklassik“ zur „Hochklassik“, zum „klassischen Jahrzehnt“ der Jahre 1794 bis 1805 erreicht sein. In diesem Jahrzehnt soll der Scheitelpunkt des Entwicklungsbogens zu sehen sein, der Gipfel der deutschen
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Literaturgeschichte. Hier soll sich die Epiphanie des deutschen Wesens vollendet haben, in einer Literatur, die den Deutschen ein- für allemal ihre Identität offenbart, sie auf unüberbietbare, eben klassische Weise mit sich selbst bekannt gemacht und zum Bewußtsein ihrer selbst gebracht hätte. Drei Ereignisse sollen den Aufstieg zu dieser höchsten Stufe markieren: 1. Goethes italienische Reise von 1786 bis 1788, seine erste authentische Begegnung mit dem „klassischen Boden“ Italiens, wie sie ihm eine vertiefte Annäherung an den Geist und die Formkultur der Antike ermöglicht habe, 2. die Französische Revolution seit 1788/89, und 3. der Anschluß Schillers an Goethe im Jahr 1794.42
Werke des „klassischen Jahrzehnts“
Als Kernbereich der Hochklassik wird das „klassische Jahrzehnt“ angesehen; das soll die Zeit gewesen sein, in der die „göttlichen Dioskuren“ Goethe und Schiller in enger Zusammenarbeit den Deutschen die klassischsten ihrer klassischen Werke geschenkt hätten. Im Gespräch mit Schiller schließt Goethe 1795/96 seinen Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ ab, das Muster des deutschen Entwicklungs- und Bildungsromans, und fördert seinen „Faust“, die „Bibel der Deutschen“ (Heine), bis dahin, daß er 1808 „der Tragödie ersten Teil“ veröffentlichen kann. Schiller schreibt seine großen philosophisch-ästhetischen Abhandlungen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ (1795) und „Über naive und sentimentalische Dichtung“ (1795/96) und entwickelt anschließend von ihnen aus das Modell seiner klassischen Dramen, von „Wallenstein“ (1800) über „Maria Stuart“ (1801), „Die Jungfrau von Orleans“ (1802) und „Die Braut von Messina“ (1803) bis zu „Wilhelm Tell“ (1804). Gemeinsam arbeiten Goethe und Schiller an ihren Balladen, an theoretischen Entwürfen wie dem Aufsatz „Über epische und dramatische Dichtung“ (1797), an den satirisch-kulturkritischen Epigrammen der „Xenien“ (1797) und an literarischen Zeitschriften, mit denen sie den Deutschen ihr klassisches Kunstprogramm nahebringen.
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Das Konstrukt einer „Deutschen Klassik“
Die Konstruktion des „klassischen Jahrzehnts“ ist wahrhaft abenteuerlich und geht in einer Weise an den historischen Realitäten vorbei, die sich an Verdrehtheit kaum überbieten läßt. In einer doppelten Konfrontation also soll der deutsche Volksgeist hier zu sich selbst gekommen sein: in der authentischen Begegnung mit der altgriechischen Kunst und Kultur und in der kritischen Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution. Und das Ergebnis soll nun eben eine durch und durch deutsche Literatur gewesen sein, eine Literatur, die in der Gegenwendung gegen die oberflächlich aufgeklärte, rationalistische Kultur der Franzosen und den politischen Aktionismus ihrer Revolutionäre den deutschen Tiefsinn, den Sinn für das Irrationale zur Geltung brächte, um neuerlich zu den ewigen Fragen der Menschheit vorzudringen und die Prinzipien der Humanität in einer Vollendung der Formen zu gestalten, wie sie zuvor allenfalls den Griechen gegeben gewesen wäre. Die Deutschen sollen so als einzige unter den modernen Nationen dahin gelangt sein, den Geist des Griechentums, seine Humanitäts- und Formkultur nicht nur nachzuahmen, sondern bis in ihre tiefsten Regungen hinein zu erfassen und unter den Bedingungen der Moderne neuerlich produktiv zu machen, sie in die moderne Welt hinein wiederaufleben zu lassen – die Deutschen allein, weil der deutsche Geist, wie man hier glaubt, dem der Griechen wesensverwandt sei.
Die Rezeption der griechischen Kultur
So viel ist an diesem Bild immerhin richtig, daß sich die Autoren der „Goethezeit“ in jeder erdenklichen Form mit der Kultur der Griechen und der Französischen Revolution auseinandergesetzt haben und daß diese Auseinandersetzung für ihre Arbeit konstitutiv war. Freilich hatte man die Kultur der Griechen während des gesamten 18. Jahrhunderts schon immer mit im Blick, dafür mußte nicht erst ein Goethe nach Italien fahren. Seit den Zeiten des frühneuzeitlichen Humanismus war das Erbe der griechisch-römischen Antike allgegenwärtig, und gerade im Zeitalter der Aufklärung hatte sich das Interesse mehr und mehr von der römischen auf die griechische Antike verlagert, als auf die ursprünglich-natürlichere Schicht der antiken Kultur. So finden sich auch unter den Aufklärern schon zahllose Gräkomanen – man denke nur an Wieland, oder an den für Wieland und Goethe so wichtigen Kunsthistoriker Johann Joachim Winckelmann (1717–1768) – und dies nicht nur in Deutschland, sondern überall im aufgeklärten Europa.
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Die Wirkung der Französischen Revolution
Neu war nun freilich die Französische Revolution, war die Art und Weise, wie Kunst und Literatur bis in die innersten Bezirke der künstlerischen Produktivität hinein von aktuellen politischen Ereignissen in den Bann geschlagen wurden. Denn die Revolution hat alle namhaften Autoren der Zeit bewegt, unausgesetzt und in der persönlich aufwühlendsten Weise. Das gilt für einen altgedienten Aufklärer wie Wieland genauso wie für den alten Klopstock, den Abgott des Sturm und Drang. Wieland begleitete die Ereignisse in Frankreich mit einer Serie von Artikeln in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Teutscher Merkur“, und Klopstock dichtete eine Reihe von Revolutionsoden, mit denen die moderne politische Lyrik in Deutschland beginnt. Die Revolution beschäftigte Goethe und Schiller, sie beschäftigte die Frühromantiker, die Brüder Schlegel und Novalis, und ihren philosophischen Mentor Fichte, und sie beschäftigte einen Jean Paul nicht weniger als einen Kleist oder Hölderlin.
Bei Goethe hatte der Ausbruch der Revolution zur Folge – und das kommt in dem alten Epochenschema und seinem Bild von der Hochklassik durchaus nicht zur Geltung – daß das Erlebnis Italiens und die Begeisterung für die Antike, wie er sie 1788 aus Italien mitgebracht hatte, in ihm zunächst wie ausgelöscht waren; sein ganzes Denken und Schaffen kreiste um das beunruhigend-faszinierende Ereignis