Geschichte der deutschen Literatur. Band 3. Gottfried Willems
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In Deutschland hat sich vor allem Johann Gottfried Herder (1744 – 1803)7 für den Begriff des „Volksgeists“ stark gemacht – ein Autor, der sich selbst als Schüler von Montesquieu sah und ein „zweiter Montesquieu“ werden wollte – und er hat ihn mit besonderem Nachdruck in
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Fragen der Kunst und Literatur zur Geltung gebracht. Das literarische Kunstwerk ist für ihn wie jedes Artefakt zugleich ein Zeugnis der „allgemeinen Menschennatur“, ein Ausdruck des besonderen, individuellen „Genies“ seines Autors und die Manifestation eines bestimmten „Volksgeists“. Der „Volksgeist“ soll als Quelle des „Charakteristischen“ die Ebene bezeichnen, die zwischen der allgemeinen Menschennatur in ihrer unspezifischen Abstraktheit und der je besonderen Individualität des Autors vermittelt.
In diesem Zusammenhang hat eine Sammlung „fliegender Blätter“ Berühmtheit erlangt, die Herder 1773 herausgab und an der auch der junge Goethe mitwirkte, eines der wichtigsten Dokumente des Sturm und Drang, das den Titel trägt „Von deutscher Art und Kunst“. Der Titel spricht für sich: was die Deutschen an Kunst hervorbringen, soll nun wesentlich als Ausdruck deutscher Wesensart begriffen werden. Übrigens kann man schon dieser Schrift ansehen, daß der Begriff des deutschen Wesens eine Konstruktion war, die nicht ohne Gewaltsamkeiten und Schiefheiten zustande zu bringen war. Die wichtigsten Beiträge des Sammelbands stammen vom jungen Goethe und sind Shakespeare und dem Straßburger Münster gewidmet. Shakespeare ist aber durchaus kein Beispiel für deutsche, sondern allenfalls für englische Art und Kunst, und die Gotik, die Goethe am Straßburger Münster bewundert, stammt aus Frankreich und nicht aus Deutschland; sie war zunächst die Kirchenbaukunst der französischen Könige. Beides, Shakespeare und die Gotik, wird hier aber für eine spezifisch deutsche Kultur reklamiert – was da als „deutsche Art und Kunst“ behauptet wird, ist offensichtlich von Anfang an krumm und schief.
Bei Herder ist der „Volksgeist“ zunächst nur ein Faktor der kulturellen Produktion unter anderen; die allgemeine Menschennatur und die Individualität, das „Genie“ des Autors bedeuten ihm mindestens genauso viel, wenn nicht noch mehr als der „Volksgeist“.8 Das ändert sich dann aber bei seinen Nachfolgern, und es ändert sich gerade in der Zeit der Französischen Revolution, in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts. Hier sind vor allem die Romantiker zu
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nennen, wie sie ihre Arbeit wesentlich als eine deutsche Antwort auf die Französische Revolution verstanden. Bei ihnen wird die Ebene des „Volksgeists“ nach und nach wichtiger als alles andere, wichtiger als die Ebenen der „allgemeinen Menschennatur“ und des individuellen „Genies“ eines Autors.
Dabei wird der Autor zu einer Art Medium des „Volksgeists“. Was ein Goethe schreibt und die Art, wie er schreibt, sollen nun wesentlich als Ausdruck des deutschen „Volksgeists“ und der deutschen „Volksseele“, als Manifestation des „deutschen Wesens“ verstanden werden. Von „Volksseele“ spricht zum Beispiel einer der Propagandisten des deutschen Nationalismus und Mentoren der Hochromantik, der entlaufene Revolutionär Joseph Görres (1776–1848).9 In der Hochromantik entsteht die Vorstellung, daß Goethe ein Werk wie den „Faust“ nur geschrieben habe und nur habe schreiben können, weil er Deutscher war und weil der deutsche Mensch nun einmal von „faustischer“ Natur sei, irgendwie immer schon ein „faustisches“ Streben im Leib habe, so daß sich dieses „Faustische“ wie von selbst in seinem Werk habe manifestieren und wiederfinden müssen.
Weltliteratur vs. Nationalliteratur
Goethe selbst war keineswegs davon angetan, auf solche Weise für den neuen deutschen Nationalismus in Anspruch genommen zu werden. Er war und blieb ein Aufklärer, und das heißt, daß er sich zunächst und vor allem als Kosmopolit, als literarischer Weltbürger verstand.10 Erst einige Autoren der nächsten Generation, erst Männer wie Novalis, Hölderlin und Kleist waren für den neuen Nationalismus anfällig; Goethe war und blieb gegen ihn immun. Als man um 1795 herum anfing, den berühmten Goethe als die zentrale Figur der deutschen Literatur seiner Zeit einen „klassischen deutschen Nationalautor“ zu nennen, hat er dies umgehend zurückgewiesen, und je mehr sich der Geist des Nationalismus in Gesellschaft und Literatur
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breit machte, desto entschiedener hat er sich gegen jede Vereinnahmung verwahrt.11
So begann Goethe gerade damals, den Begriff der „Weltliteratur“, das Konzept eines literarischen Kosmopolitismus zu propagieren (HA 12, 361–364). Ohnehin hat er sich nie nur mit der deutschen Literatur allein, sondern immer auch mit der des Auslands beschäftigt. Unausgesetzt hat er sich darum bemüht, den Deutschen französische, englische, italienische, ja sogar persisch-arabische, indische und chinesische Literatur nahezubringen, und in seinen eigenen Werken hat er immer wieder den produktiven Dialog mit diesen fremden Literaturen gesucht. „National-Literatur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit“,12 so Goethe selbst – für den neuen Nationalismus eine unerträgliche Provokation. Für Goethe war die Literatur nicht so sehr der Ort, an dem ein nationales Selbstbewußtsein entsteht, an dem ein deutscher „Volksgeist“, eine deutsche „Volksseele“, ein deutsches Wesen ausdruckshaft zum Vorschein kommen, um in ihren Produktionen ihrer selbst innezuwerden und ein klares Bewußtsein von sich selbst zu gewinnen, als vielmehr ein Ort, an dem Menschen der unterschiedlichsten Herkunft und Lebensweise einander auf der Basis der „allgemeinen Menschennatur“ begegnen können.13
Nationalismus und Germanistik
Aber was Goethe auch immer in diesem Sinne unternahm – der Gedanke der Nationalliteratur war nicht mehr aufzuhalten, er setzte sich durch, und Goethe wurde als Zentralfigur der deutschen Literatur für ihn vereinnahmt, wurde zum „klassischen deutschen Nationalautor“ ausgerufen, und sein Werk zum Höhepunkt und Inbegriff einer deutschen Nationalliteratur. Man kann diese Vereinnahmung auch eine Fälschung nennen. Zur wichtigsten Werkstatt solcher Falschmünzerei wurde aber bald schon die neue Wissenschaft der Germanistik. Mit
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einer Lüge hat sie das Licht der Welt erblickt, der schiefe Blick war ihr Geburtsfehler, und manchmal möchte man meinen, daß er bis heute ihr Markenzeichen geblieben sei, wenn sie sich seither natürlich auch in manch anderen Formen des Schielens geübt hat.
Schon jetzt dürfte deutlich sein, wie wichtig es ist, sich bereits bei der ersten Annäherung an die Literatur der Goethezeit Rechenschaft vom Klassik-Mythos zu geben. Solche Rechenschaft ist die unabdingbare Voraussetzung dafür, etwas von dem in den Blick zu bekommen, was diese Literatur ursprünglich war und sein wollte. Dabei handelt es sich offensichtlich nicht nur um das Abtragen eines historischen Firnis, sondern um sehr viel mehr, nämlich um die Neutralisierung dessen, was die Fälscherwerkstatt des Nationalismus aus dieser Literatur gemacht hat. Die eifrigsten Arbeiter in dieser Fälscherwerkstatt waren aber nun einmal die Germanisten; sie mußten es sein, denn die raison d’être ihrer Disziplin war zunächst eben nichts anderes, als die Literatur der Goethezeit als Blütezeit der deutschen Nationalliteratur zu erweisen, sie als Raum der Epiphanie des deutschen Wesens darzustellen und in Erinnerung zu halten.
Die Ausarbeitung des Klassik-Mythos zur Klassik-Doktrin
Wie