Grundkurs Soziologie. Hans Peter Henecka
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Es gibt dabei ziemlich viele konkurrierende Definitionen von »Soziologie«. Böse Zungen behaupten, es gehöre zum professionellen Lebenswerk eines jeden echten Soziologen, eine eigene Begriffsbestimmung seines Fachs zu entwickeln. Dass es keine allgemein anerkannte, verbindliche und umfassende Definition von Soziologie gibt, hängt jedoch eng mit der Tatsache zusammen, dass nahezu alle Gegenstände und Erfahrungen unseres täglichen Lebens einen soziologischen Bezug aufweisen und deshalb eine Aufzählung bzw. Abgrenzung der Gegenstandsbereiche der Soziologie praktisch unmöglich ist. Eher lässt sich die »soziologische Denkweise« oder die »soziologische Perspektive« als professionelles Neugierverhalten charakterisieren, hinter die scheinbaren Selbstverständlichkeiten und Rätsel unseres Alltags zu schauen und die damit verbundenen Erfahrungen aus kritischer Distanz zu beschreiben, zu hinterfragen und zu erklären. In diesem Sinne lässt sich Soziologie pragmatisch definieren als »das systematische und kontrollierte Beobachten und Erklären von regelmäßig auftretenden sozialen Beziehungen, von ihren Ursachen, Bedingungen und Folgen« (Seger 1970, 13).
Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre
Günter Endruweit (1998): Der Begriff der Soziologie. In Ders., Beiträge zur Soziologie. Bd. II. S. 14–34. Causa: Kiel.
Hermann L. Gukenbiehl (2010): Soziologie als Wissenschaft. Warum Begriffe lernen? In Hermann Korte & Bernhard Schäfers (Hrsg.), Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie. 8. Aufl. S. 11–22. VS: Wiesbaden.
Karl-Heinz Hillmann (2007): Wörterbuch der Soziologie, 5. Aufl. (Darin Stichwort »Soziologie« mit weiteren Literaturhinweisen). Kröner: Stuttgart.
1.3.3 | Soziologie und soziale Probleme |
Die Bezeichnungen sozial und soziologisch werden oft verwechselt. Etwa wenn ein Politiker von der »soziologischen« Struktur einer Gemeinde spricht oder von einem Journalisten in einem Pressebericht über Arbeitslosigkeit vermutet wird, dass hier »soziologische« Faktoren im Spiel seien. »Soziologisch« bedeutet jedoch im eigentlichen Sinne »gesellschaftswissenschaftlich«, d. h. von den Erkenntnissen, Begriffen, Theorien, kurz vom Bezugssystem der Soziologie her gesehen. Gemeint ist aber »sozial« im Sinne von »gesellschaftlich«, so dass also in derartigen Fällen sachlich richtig von der sozialen Struktur und von sozialen Faktoren gesprochen werden muss. Entsprechend ist deshalb ein soziales Problem keineswegs auch immer ein soziologisches und umgekehrt betreffen soziologische Fragestellungen entgegen einem weit verbreiteten Missverständnis durchaus nicht immer soziale Probleme.
Ein soziales oder gesellschaftliches Problem liegt meist dann vor, wenn eine Diskrepanz (Widerspruch) zwischen den gesellschaftlichen Normen und Zielvorstellungen und dem tatsächlichen Verhalten der Menschen besteht (z. B. im Falle von Devianz und Kriminalität) oder wenn eine unvorhergesehene oder unvorhersehbare Situation eintritt, die in der Gesellschaftsordnung (noch) nicht geregelt ist (wie beispielsweise Massenarbeitslosigkeit in Deutschland und gleichzeitige Verlagerung von Arbeitsplätzen durch inländische Unternehmen in Billiglohnländer).
Eine soziologische Fragestellung liegt dagegen erst dann vor, wenn bestimmte gesellschaftliche Problemlagen, Zustände und Prozesse erklärt werden sollen. Wenn also ein Soziologe ein soziales Problem bearbeiten soll, muss er es zunächst in eine soziologische Frage »übersetzen«; erst dann kann er mit seinem Handwerkszeug, d. h. mit seinen Begriffen, Theorien und Untersuchungsmethoden, das Problem erfassen, beschreiben und zu erklären suchen. Hierbei wird schon deutlich, dass ein bestimmtes soziales Problem, auch nachdem es soziologisch geklärt ist, durchaus als soziales Problem weiter bestehen kann. So können beispielsweise Soziologen in Bezug auf das soziale Problem der Chancengerechtigkeit im Bildungswesen schon seit den 1970er-Jahren und nicht erst seit den international vergleichenden Schulleistungsuntersuchungen der OECD (PISA-Studien) der letzten fünfzehn Jahre auf die Wirkung der sozialen Herkunft aufmerksam machen und auch empirisch nachweisen, dass das Schulsystem durch seine typische »Schulkultur« insbesondere im Sprachverhalten Schüler aus mittleren und oberen Schichten begünstigt. Vielmehr konnten Bildungssoziologen auch schon seit Langem darauf aufmerksam machen, wie sehr Lehrerurteile über Eignung und Leistungsfähigkeit von Schülerinnen und Schüler von typologischen Vorstellungen und impliziten Persönlichkeitstheorien beeinflusst werden können, in die auch leistungsfremde, kaum objektivierbare Beurteilungsbestandteile eingehen und inwiefern auch solche Schülertypologien wiederum stark schichten- und milieuspezifisch orientiert sind. Den betroffenen Kindern helfen solche theoretischen Erklärungen zunächst wenig, denn das soziale Problem der Benachteiligung bleibt ja zunächst weiter bestehen. Ähnlich verhält es sich bei dem allseits bekannten und nicht nur ökologisch, sondern auch soziologisch vielfach erforschten Problem der Umweltverschmutzung durch CO2- und Feinstaub-Emissionen. Die Analysen sind klar, und Umweltschutz gilt weithin als dringend geboten. Geht es aber an die praktisch zu ziehenden Konsequenzen wie die Einschränkung der gewohnten Lebensführung, ist nach wie vor mit erheblichen Widerständen zu rechnen.
Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre
Günter Albrecht (1981): Einführung zum Thema »Konstitution sozialer Probleme«. In Joachim Matthes (Hrsg.), Lebenswelt und soziale Probleme. Verhandlungen des 20. Deutschen Soziologentages zu Bremen. Campus: Frankfurt/M.
Axel Groenemeyer (2012): Soziologie sozialer Probleme – Fragestellungen, Konzepte und theoretische Perspektiven. In Günter Albrecht & Axel Groenemeyer (Hrsg.), Handbuch Soziale Probleme, 2. Aufl., S. 17–116. VS: Wiesbaden.
Günter Hartfiel (1981): Soziale Schichtung. 2. Aufl. (Darin Kapitel 6 »Soziale Schichtung und Erziehung«, S. 133–171). Juventa: München.
1.4 | Wozu kann man Soziologie brauchen? |
1.4.1 | Soziologie als Missverständnis |
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach dem Nutzen der Soziologie für die gesellschaftliche Praxis. Unter dem noch unmittelbaren Eindruck der internationalen Studentenbewegung der späten 1960er-Jahre bemerkte die Soziologin Imogen Seger (1970, 11): »Wer in den letzten Jahren die Berichte im Fernsehen und in den Zeitungen verfolgt hat, der muss zu der Ansicht kommen, die Hauptbeschäftigung der Soziologiestudenten sei es, die Revolution inner- und außerhalb der Universitäten vorzubereiten, und die Hauptbeschäftigung ihrer Professoren sei es, sie dabei zu ermuntern.«
In der Tat hatten manche Politiker und Kommentatoren einen guten Anteil an den landläufig recht gängigen Klischees, Soziologie habe etwas mit Revolution und Sozialismus oder gar Kommunismus zu tun. Sie vermuteten einen Zusammenhang zumindest zwischen einer bestimmten soziologischen Denkweise (gemeint war vor allem die »Kritische Theorie« der sogenannten »Frankfurter Schule« der Soziologie) und radikalen jungen Leuten, die vorgeben würden, Gesellschaftswissenschaften zu studieren, in Wirklichkeit aber auf Kosten der Steuerzahler in Hörsälen und auf Straßen randalieren oder gar terroristische Gewaltakte planen und durchführen.
Dieses verallgemeinernde Vorurteil entzündete – und entzündet sich immer wieder vor allem an der Beobachtung, dass Soziologie offenbar nicht nur für jene Studentinnen und Studenten anziehend und anregend wirkt, die die Gesellschaft, in der sie leben, verstehen wollen, sondern auch für solche höchst attraktiv erscheint, die die gesellschaftlichen