Grundkurs Soziologie. Hans Peter Henecka

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Grundkurs Soziologie - Hans Peter Henecka

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       Daneben hat die Soziologie von Anfang an – wenn auch nicht in dem einleitend beschriebenen vulgären Missverständnis – immer auch eine kritische Funktion und eine prognostische Absicht begleitet. Als kritische Wissenschaft ist sie »verpflichtet auf das sapere aude, auf die Distanz gegenüber geltenden Werten und Institutionen« (Jonas 1981, 12). In diesem Sinne möchte sie anhand der Analyse der gesellschaftlichen Strukturen und der Bedingungen ihrer Verwirklichung ein kritisches Bewusstsein gegenüber dem Status quo erzeugen, bestimmte Missstände in herrschenden Zuständen aufzeigen und möglichst rationale Alternativen des sozialen Handelns entwerfen. Langfristiges Ziel dabei ist es, durch methodisch gesicherte Erklärungen zu versuchen, hinsichtlich künftig zu erwartender oder auch bewusst angestrebter Veränderungen sozialer Bedingungszusammenhänge Prognosen über erwünschte oder unerwünschte gesellschaftliche Wirkungen beim Einsatz verschiedener Mittel aufzustellen.

       Schließlich soll auch die potenziell gesellschaftlich affirmative Stabilisierungs- und Konservierungsfunktion von Soziologie nicht unterschlagen werden. Insbesondere in stark ideologisierten, fundamentalistischen und rationalen Zielen gegenüber nicht offenen Gesellschaften findet Soziologie – wenn sie überhaupt als wissenschaftliche Disziplin toleriert wird – oft nur insoweit Unterstützung und Entfaltung, als sie sich in der Analyse und Beschreibung auf das gesellschaftlich Bestehende beschränkt und die Interessen und Privilegien von herrschenden Gruppen durch unkritische Anwendung soziologischen Wissens zu unterstützen geneigt ist. In diesem Sinne kann Soziologie auch zur Zementierung der jeweils herrschenden Zustände missbraucht werden.

      Wenn die Soziologie – wie wahrscheinlich jede andere Denkrichtung auch – letztlich nicht gefeit ist gegen bestimmte ideologische Uminterpretationen und Missverständnisse im Sinne einer revolutionären Heilslehre oder einer letztlich nur noch vorgegebenen administrativen Zielen dienenden Hilfswissenschaft, so kann sie sich dennoch jenseits dieser extremen Positionen für alle, denen Wissenschaft nicht Selbstzweck bedeutet, sondern die von ihr einen praktischen Nutzen zum Wohle der Menschen erwarten, vor allem aus folgenden drei Gründen (Behrendt 1962, 17 f.) empfehlen:

       Sie hilft, einzelne Erlebnisse und Beobachtungen nicht isoliert – und damit ohne Aussicht auf Verständnis ihrer Ursachen und Bedeutung – zu sehen, sondern sie als Teil umfassender gesellschaftlicher Strukturen, u. a. als Auswirkungen von Wertsystemen, Schichtungsordnungen und sozial-kulturellen Milieus interpretierend zu verstehen.

       Sie hilft, die Relativität der Werte und Verhaltensweisen der eigenen Umwelt und Zeit zu erkennen und fördert damit die Fähigkeit – und zuweilen auch die Bereitschaft –, die Verhaltensweisen von Angehörigen anderer Sozialgebilde und Kulturkreise zu verstehen und sich einfühlend in ihre Lage zu versetzen.

       Sie hilft, den dynamischen Charakter von Verhaltensweisen und Gesellschaftsstrukturen insbesondere in unserer Zeit verständlich zu machen und hiermit die Panik zu bekämpfen, die aus mangelndem Verständnis komplizierter und sich rasch wandelnder gesellschaftlicher Strukturen entspringt. So kann Soziologie die Wurzeln aufdecken, aus denen die Tagesereignisse entspringen und aus deren Kenntnis diese dann besser verstanden und gelassener bewältigt werden können.

       Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

      Norbert Elias (2014): Was ist Soziologie? 12. Aufl. (Darin die »Einführung«, S. 11–35). Beltz Juventa: Weinheim, Basel.

      Joachim Fritz-Vannahme (Hrsg.) (1996): Wozu heute noch Soziologie? (= Beiträge der Wochenzeitung DIE ZEIT unter dem Serientitel »Der Streit um die Soziologie«). Leske + Budrich: Opladen.

      Anthony Giddens (2009): Soziologie. 3. Aufl. (Darin Kapitel 1 »Was ist Soziologie?«). Nausner: Graz, Wien.

1.5Einige Vorväter und Begründer: Soziologie als Krisenwissenschaft
1.5.1Die lange Vorgeschichte:Von der Antike über das Mittelalter und die Aufklärung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts

      Gelegentlich mag der Eindruck entstehen, Soziologie sei eine hochmoderne, eher geschichtslose Wissenschaft, die sich weder um ihre eigene Geschichte noch um historische Prozesse viel kümmere. Tatsächlich lässt sich aber die Soziologie – zumindest in ihrer Vorgeschichte – zurückführen bis in die Antike und das Mittelalter. Schon Platon, Aristoteles, die Sophisten oder Thomas von Aquin haben sich mit elementaren Problemen des menschlichen Zusammenlebens kritisch auseinandergesetzt.

      Der österreichisch-britische Philosoph, Soziologe und Wissenschaftstheoretiker Karl Raimund Popper (1902–1994) etwa sieht (in seinem Buch »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde«) »Platons Größe als Soziologe in der Fülle und der Detailliertheit seiner Beobachtungen sowie in der erstaunenswerten Schärfe seiner soziologischen Intuition. Er sah Dinge, die man vor ihm nicht gesehen hatte und die erst in unserer Zeit wieder entdeckt worden sind.« (Popper 1975, I, 68). Wie »modern« Platon (427–347 v. Chr.) in seiner Staats- und Gesellschaftslehre in gewissem Sinne ist, lässt sich beispielsweise an der Wahl seiner Themen erkennen: »Dazu gehören die Prinzipien und Auswirkungen der Arbeitsteilung, die Gefahren des Privateigentums, der Zusammenhang zwischen Luxuskonsum und Expansion des Wirtschaftsraumes, die entfremdenden Folgen der Geldwirtschaft, die Entstehung von Ständen, die Geschichte der Gesellschaft als Geschichte von Standeskämpfen, die Spaltung von Eliten als Voraussetzung von Revolutionen« sowie die Einbindung dieser mehr theoretischen Überlegungen »in einen historischen Zusammenhang, der von der patriarchalischen Viehzüchterfamilie zur Sippenorganisation, [bis hin] zur Dorf- und Städtebildung mit monarchischer Verfassung und gesetztem Recht nach dem Muster eines Gesellschaftsvertrages reicht« (Rüegg 1969, 25). Ähnliche soziologische Perspektiven finden sich auch bereits bei den Sophisten, die die Gesellschaft ihres religiösen Nimbus und metaphysischen Schleiers zu entkleiden suchten und sie als Ergebnis menschlichen Handelns und sozialer Übereinkunft betrachteten.

      Auch Platons Schüler Aristoteles (384–322 v. Chr.), dessen Schrift »Politik« nach der Einschätzung des amerikanischen Soziologen Franklin H. Giddings (1855–1931) das bedeutendste Werk ist, das jemals die menschliche Gesellschaft behandelt hat, ist in dem Sinne bereits »modern«, als Aristoteles zur Grundlegung seiner sozialen und politischen Erkenntnisse zunächst auf die sozialphilosophisch üblichen, wertgeladenen Spekulationen verzichtete. Dafür sammelte er erst einmal umfangreiches empirisches Material und versuchte so in seinen Arbeiten bereits jenem Anspruch einer möglichst werturteilsfreien Erfahrungswissenschaft gerecht zu werden, der heute als fundamentale Voraussetzung für soziologisches Denken eingefordert wird. Denn »wer irgendeinen Zweig des Wissens wirklich wissenschaftlich behandeln und nicht bloß auf das Praktische sein Augenmerk richten will, dem kommt es zu, nichts zu übersehen oder unberührt zu lassen, sondern die Wahrheit über ein jedes zu Tage zu fördern« (Aristoteles, Politik, III, 5).

      Von Aristoteles stammt übrigens auch jene berühmte Aussage, die später u. a. auch von Thomas von Aquin (1225–1274) wieder aufgegriffen wurde: nämlich dass der Mensch ein soziales Wesen sei (»ánthropos zóon politikón«, Politik, I, 2) – eine Kurzformel, in der im Grunde genommen bereits das spätere Forschungsprogramm der Soziologie enthalten ist, wenn auch ein noch sehr weiter Weg zur Soziologie als einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin blieb. Denn »trotz der überragenden Leistungen des Aristoteles vermochten die Griechen nicht zur Soziologie als einer spezifischen Wissensdisziplin vorzudringen, da ihnen das Vermögen fehlte, zwischen Staat und Gesellschaft deutlich zu unterscheiden, so dass sie die sozialen Beziehungen niemals völlig unabhängig von ihren politischen Aspekten betrachteten, ja im Zweifelsfall dem politischen Aspekt stets Priorität vor dem sozialen einräumten« (Eisermann 1973, 4).

      Das Mittelalter führte auf diesem Weg nicht weiter. Die starke Bindung an Autoritäten sowie das vorherrschende Interesse am »Wesen der Dinge«, d. h. an der »richtigen Ordnung« der zwischenmenschlichen Beziehungen in einer »vollkommenen Gesellschaft« (»societas

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