Grundkurs Soziologie. Hans Peter Henecka
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Als weiterer Vorvater der Soziologie kann sicher auch der Florentiner Niccolò Machiavelli (1469–1527) gelten, der sich zu Beginn der italienischen Renaissance gegen jeglichen scholastischtheologischen Dogmatismus wandte und die sozialen Gleichförmigkeiten in Geschichte, Gesellschaft und Politik einer rein auf Erfahrung und Beobachtung beruhenden empirischen Analyse zu unterziehen suchte. Insbesondere in seiner 1532 erschienenen Schrift »Über den Fürsten« (Il Principe) stellt er nachdrücklich fest, dass die Menschen betrachtet werden müssten, wie sie sind und nicht, wie sie nach bestimmten Glaubenssätzen zu sein hätten. In seinem konsequenten Realismus verfocht er die These, dass das soziale Handeln des Menschen aus seinen Antrieben heraus verstanden werden müsse. Hierzu lieferte er im Principe bereits eine klassische sozialpsychologische Studie über die Ursachen und Effekte verschiedener Motivstrukturen auf die zwischenmenschlichen Beziehungen. Außerdem begründete er mit dieser Schrift eine Klassifikation politischer Herrschaft und legte eine bis heute häufig zitierte Liste bestimmter moralischer Eigenschaften des Regierenden und seiner Macht- und Herrschaftstechniken im Hinblick auf eine möglichst effiziente Ordnung und Zielerreichung vor. Seitdem sind allerdings auch der Begriff des Machiavellismus und die damit verbundene Vorstellung einer skrupellosen Politik immer wieder Gegenstand macht- und herrschaftstheoretischer Diskussionen.
Die eigentliche zusammenhängende Vorgeschichte der Soziologie beginnt jedoch wohl erst mit der Krise des absolutistischen Staates, jener »crise de la conscience européenne« (Hazard 1935), die die Gesellschaftslehre der Aufklärung hervorbrachte und zur Trennung von Staat und Gesellschaft führte. Neben vielen, in erster Linie philosophisch orientierten Beiträgen zur Gesellschaft und Politik ihrer Zeit (vgl. hierzu Jonas 1981, 12 ff.) werden jetzt für die erwachende Soziologie insbesondere jene Arbeiten begründend, die die Gesellschaft aus dem globalen philosophischen und theologischen Problembezug lösen und die bislang selbstverständliche Geltung von tradierten Werten und Institutionen in Frage stellen.
Hierzu zählen z. B. in England die staatspolitischen Schriften von Thomas Hobbes (1588–1679), insbesondere dessen Abhandlung »Leviathan« von 1651, sodann die Vertreter eines empirischen Skeptizismus wie John Locke (1632–1704) und David Hume (1711–1776) sowie die Theoretiker der sogenannten Schottischen Schule Adam Smith (1723–1790), Adam Ferguson (1723–1816) und John Millar (1735–1801).
In Frankreich wird diese Entwicklung vor allem von Montesquieu (1689–1755) vorangetrieben, der seine zeitgenössische Gesellschaft einer beißend-ironischen Kritik unterzog und im Anschluss daran eine historisch-analytische Theorie des sozialen Wandels entwarf. In ähnlicher Weise profilieren sich nicht nur Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) und der Marquis de Condorcet (1743–1794) als engagierte Kritiker einer moralisch verrotteten, feudalen Rokoko-Gesellschaft, sondern auch der zu den Frühsozialisten zählende Comte de Saint-Simon (1760–1825).
Wichtige vorsoziologische Quellen sind beispielsweise nicht nur Rousseaus berühmt gewordene Abhandlung über den »Gesellschaftsvertrag« (Du contrat social, 1762), sondern auch seine Antwort auf die Preisfrage der Akademie von Dijon (»ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beitrage«, 1750), in der der Autor nachhaltig und kompromisslos die von der Akademie gestellte Frage verneint und seine Auffassung insbesondere mit den Folgen der sozialen Ungleichheit begründet. Diesen Gedanken führt er dann in der Abhandlung »Über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen« (1755) systematisch weiter, wobei er den folgenschweren Gedanken entwickelt, dass die Entstehung des Eigentums den eigentlichen Sündenfall des Menschengeschlechts bilde.
Grundlegende Beiträge für eine spätere Theorie des menschlichen Handelns sowie eine differenzierte Theorie der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates lieferten im damals allerdings »revolutionsabstinenten« Deutschland vor allem die großen Philosophen der Romantik bzw. des deutschen Idealismus wie Immanuel Kant (1724–1804), Johann Gottlieb Fichte (1762–1814), Friedrich Schleiermacher (1768–1835), Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) und Friedrich Wilhelm Schelling (1775– 1854). Auch ist in diesem Zusammenhang der Staatsrechtler Lorenz von Stein (1815–1890) zu nennen, der im deutschen Vormärz die ideologischen und politischen Positionen des in Bewegung geratenen Bürgertums zu klären versuchte.
Sie und viele andere bedeutende Denker dieser Epoche wurden aufgrund bereits spürbarer tief greifender Veränderungen dazu angeregt, die Gesellschaft ihrer Zeit mit neuen Augen zu sehen:
An Stelle der traditionellen Agrarwirtschaft, die vor allem auf Selbstversorgung ihrer Angehörigen angelegt war (marktunabhängige Subsistenzwirtschaft), trat in immer stärkerem Maße die Produktion von Waren, die man auf dem Markt gewinnbringend verkaufen konnte. Naturwissenschaftliche Entdeckungen und entsprechende technische Erfindungen und Entwicklungen verstärkten diesen Prozess.
Für Autoren, die den Beginn der Industrialisierung aus eigener Anschauung und Erfahrung miterlebten, wird die fortschreitende Arbeitsteilung und Arbeitszerlegung in den Manufakturen und Fabriken und die damit einhergehende berufliche Spezialisierung zu einem besonders auffälligen Vorgang, der die zwischenmenschlichen Beziehungen wie die gesamtgesellschaftlichen Strukturen entscheidend verändert.
Die feste Verankerung der Menschen in den sozialen Gruppen und Gemeinschaften, in die sie hineingeboren wurden, begann sich zu lockern. Nicht mehr die Herkunft und Abstammung, sondern das unterschiedliche Maß an Eigentum wurde zunehmend als die große Quelle der Distinktion zwischen den Menschen erkannt. Folglich wurden auch die herkömmlichen Überlieferungen, traditionellen Symbole und Sitten einer ständischen Gesellschaft längst nicht mehr von allen als selbstverständlich und unveränderbar begriffen.
Insbesondere das aufsteigende Bürgertum rüttelt jetzt an der jahrhundertelang unangefochtenen Herrschaft des Adels und beginnt, seine eigenen Interessen zu artikulieren. Es postuliert in seiner neuen Philosophie ein in erster Linie rational handelndes Individuum, das – dem gesamtgesellschaftlichen Fortschritt entsprechend – von feudal-klerikalen Bevormundungen und berufsständischen Bindungen sowie von ideologischen Einengungen und Einschränkungen vitaler Bedürfnisse befreit sein sollte.
Neue gesellschaftliche und politische Ordnungen werden diskutiert und in zunehmendem Maße auch praktisch ausprobiert, – in England bereits im 17. Jahrhundert in pragmatischen Kompromissen zwischen dem Adel und dem selbstbewussten Bürgertum, in Frankreich erst später im Zusammenhang mit der Französischen Revolution und den damit verbundenen sozialen und politischen Erfahrungen von Revolution und Kaiserreich.
Zusammenfassend lässt sich jedoch festhalten, dass die »stillere« industrielle Revolution insgesamt tiefer greifende und andauerndere Umwälzungen im sozialen Alltag bewirkte als die diversen politischen Veränderungen und spektakulär lärmenden Revolutionsakte in dieser Zeit.
Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre
Friedrich Jonas (1981): Geschichte der Soziologie I. Aufklärung, Liberalismus, Idealismus, Sozialismus, Übergang zur industriellen Gesellschaft (mit Quellentexten). (Darin exemplarisch Jean-Jacques Rousseau, »Vom Gesellschaftsvertrag oder den Prinzipien des politischen Rechts«, S. 355–363.) 2. Aufl. Westdt. Verlag: Opladen.
Hermann Korte (2011):