Empirische Sozialforschung. Günter Endruweit

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Empirische Sozialforschung - Günter Endruweit

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allem um deren frühzeitige Erkennung. Man kann gerade als Neuling in einer Sozialwissenschaft manchmal lange an einem Projekt arbeiten, bevor man merkt, dass man schon längst in einer Sackgasse steckt. Dieses Buch soll vor allem helfen zu vermeiden, in eine solche Sackgasse hinein zu geraten.

      1 Ausführlicher dazu Endruweit, S. 65–79.

1.Begriffsklärungen

      Bevor wir mit den Überlegungen zum Inhalt der Wissenschaftstheorie beginnen, sind Einigungen darüber notwendig, wie die Schlüsselbegriffe Wissenschaft und Sozialwissenschaft zu verstehen sind. Es ist anzunehmen, dass die Wissenschaftstheorie etwas über die Gegenstände dieser Begriffe aussagen will. Die Diskussion über Gegenstände setzt aber voraus, dass man sich über deren Begriff einig ist, weil man nur so sicher sein kann, über denselben Gegenstand zu sprechen.

Wissenschaft

      Zu Begriffsdefinitionen kann man auf verschiedene Weisen kommen,2 die alle ihre Berechtigung haben. Man kann die Begriffe apriorisch, gewissermaßen selbstherrlich festlegen. Das ist in der Wissenschaft häufig der Fall, auch in den Sozialwissenschaften. Max Weber drückte dieses Verfahren schon in der sprachlichen Fassung seiner Definitionen begrüßenswert deutlich aus, wenn er etwa Herrschaft definierte: »Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden.«3 Selbst wenn niemand sonst diese Definition teilt, kann sie in der Forschung als Maßstab benutzt werden, um herauszufinden, wie nahe oder fern ein untersuchter Gegenstand dieser Definition ist und wie er sich somit von ähnlichen Gegenständen unterscheidet. Die Qualität solcher Definitionen ist danach zu beurteilen, inwieweit sie sich in der weiteren Forschung als nützliches Instrument erweisen.

      Gerade für empirische Sozialwissenschaften könnte ein zweites Verfahren angemessen sein: die empirische Ermittlung aller bisher für einen Begriff vorgeschlagenen Definitionen und die Entwicklung eines Verfahrens, mit dem eine Definition nach einem sinnvollen Maßstab ausgewählt wird. Das könnte z. B. die am häufigsten benutzte Definition sein oder die neueste, wenn man davon ausgeht, dass diese die Vorteile aller früheren enthält und alle Nachteile vermeidet; zu dieser Annahme hat man jedoch sehr selten Anlass. Es könnte auch die Definition sein, die nur solche Elemente enthält, die allen Definitionen gemeinsam sind, oder diejenige, welche die am meisten benutzten Elemente enthält. Solche Definitionsverfahren sind vor allem angemessen, wenn man einen Überblick über allgemeine Theorien bieten oder herrschende Richtungen ermitteln will.

      Für eine Definition des Wissenschaftsbegriffs bietet sich gerade in den Sozialwissenschaften ein dritter Ansatz an: die Ermittlung der sozialen Funktion, des wirklichen Arbeitsbereichs also, oder der sozialen Rolle von Wissenschaft, d. h. der Erwartungen, die in der Gesellschaft gegenüber der Wissenschaft gehegt werden. Einwandfrei wäre eine solche Begriffsbestimmung natürlich nur dann, wenn man ihren Inhalt mit empirischen Methoden feststellen würde. Das ist in hinreichendem Umfang bisher nicht gemacht worden und auch hier nicht zu leisten. Deshalb müssen wir uns mit einem Substitut bescheiden.

      Dieser Empirieersatz läge möglicherweise in einem Vergleich, bei dem wir diejenigen Charakteristika, die bisher anerkannte Wissenschaften auszeichnen, den Merkmalen gegenüberstellen, welche Bereiche markieren, die sich nicht als Wissenschaften etablieren konnten. Aus den festgestellten Unterschieden könnte man dann – mit den dabei üblichen Unsicherheitsfaktoren – auf die sozial konstitutiven Kriterien für Wissenschaft schließen. Dieses Verfahren zeigt deutlich seine Zeitbedingtheit, die aber Folge der sozialen Natur dieses Wissenschaftsbegriffs ist.

      Wenn man nun untersucht, warum Physik und Geschichte seit Langem, Psychologie und Soziologie seit relativ Kurzem als Wissenschaften allgemein anerkannt sind, während Astrologie und Chirologie keinerlei erkennbare Chance haben, aus dem Stadium des Vorwissenschaftlichen herauszutreten, dann stellt man drei offensichtlich entscheidende Kriterien fest, die vermutlich auch maßgebend für die Anerkennung neuer Wissenschaften sind: Man erwartet eine eigene Theorie oder eine eigene Methode oder beides, und man stellt an das Ergebnis dieser beiden Elemente noch besondere Ansprüche, nämlich dass sie zu mehr Wissen führen. Daraus gewinnen wir als Begriffsbestimmung:

      Definition »Wissenschaft«

      Wissenschaft ist der Bereich menschlicher Tätigkeit, in dem mit dem Ziel gearbeitet wird, Wissen zu produzieren (Forschung) und zu systematisieren (Theorie).4

      In dieser Definition gibt es keinen Hinweis auf die vielen Unterschiede zwischen den Wissenschaften. Das ist auch nicht nötig. Denn eine Definition (von lat. finis = Ende, Grenze) ist eine Abgrenzung ihres Gegenstandes von allen anderen Gegenständen, die nicht unter diesen Begriff fallen sollen. Hier ist also Wissenschaft von Nicht-Wissenschaft abzugrenzen.

      Das haben wir an dieser Stelle mit einer aristotelischen Definition versucht, einer von den zahlreichen Arten von Definitionen. Diese Definitionstechnik beginnt mit der Nennung eines Oberbegriffs (genus proximum; hier: Bereich menschlicher Tätigkeit), unter den auch andere Unterbegriffe, z. B. Handwerk, Medizin und Sozialarbeit, fallen. Dann werden die besonderen Merkmale des zu definierenden Begriffs angegeben (differentia specifica; hier: Produktion und Systematisierung von Wissen), die nur für die Wissenschaft zutreffen, nicht aber für die anderen Bereiche menschlicher Tätigkeit. Das schließt nicht aus, dass auch im Handwerk, in der Medizin oder bei der Sozialarbeit hin und wieder Wissen produziert oder systematisiert wird; viele Gelegenheitsentdeckungen sind ein Beispiel dafür – aber eben auch dafür, dass sie nur ein zufälliges Nebenprodukt einer an sich auf anderes gerichteten Tätigkeit waren. Ebenso wird durch die Definition nicht ausgeschlossen, dass auch Wissenschaftler neben forschen und theoretisieren noch etwas anderes tun, z. B. lehren5; aber das ist dann bei ihnen ein Nebenprodukt.

      In unserer Wissenschaftsdefinition sind drei Elemente besonders problematisch. Sie sollen in den nächsten Abschnitten näher untersucht werden.

Wissen

      Stellt man sich auf Grund unserer Wissenschaftsdefinition die wissenschaftlichen Einrichtungen als Unternehmen mit Produktionsbetrieben und Lagerhallen vor, dann ist Wissen das Produkt oder Gut, das dort hergestellt und bereitgehalten wird. Unter Wissen soll verstanden werden:

      Definition »Wissen«

      Wissen ist ein menschlicher Bewusstseinszustand, in dem Aussagen über Gegenstände als sachlich begründet und intersubjektiv begründbar angesehen werden.

      Mit anderen Bewusstseinszuständen – wie Meinen, Glauben, Annehmen, Vermuten – hat Wissen gemeinsam, dass es Aussagen über Gegenstände macht. Das können Gegenstände aller Art sein: körperliche Gegenstände, wie etwa Dieselmotoren, oder nur als gedankliches Konstrukt existierende, wie die Rolle eines Vereinsvorsitzenden; gegenwärtige Gegenstände, wie die politischen Konflikte in der Schweiz, vergangene Gegenstände, wie die Verhaltensmuster des aztekischen Adels, und zukünftige Gegenstände, wie die Zahl der Eheschließungen am Ende des Jahrhunderts. Prinzipiell unterscheidet sich die Wissenschaft hier nicht von den anderen Bewusstseinszuständen; ob nicht aber doch einzelne, jedoch nicht prinzipielle Einschränkungen nötig oder nützlich erscheinen, wird im Kapitel 1.1.2 erörtert.

      Ebenso stimmen die Aussagen der Wissenschaft über Gegenstände mit den Aussagen überein, die als Meinung, Glauben usw. produziert werden, wenn wir die sprachliche Form der Aussage betrachten. Als Aussagen über einen Gegenstand wollen wir alle Sätze ansehen, die einen Gegenstand im eben skizzierten Sinne durch Angabe von Eigenschaften oder Verhaltensweisen charakterisieren, also einen Aussagesatz. Eine der schlichtesten Aussagen ist Thomas Hobbes’ Annahme über die Grundlage aller zwischenmenschlichen Konflikte und mancher sozialwissenschaftlicher Theorien darüber: »Homo homini

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