Empirische Sozialforschung. Günter Endruweit

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Empirische Sozialforschung - Günter Endruweit страница 5

Автор:
Серия:
Издательство:
Empirische Sozialforschung - Günter Endruweit

Скачать книгу

Derartige Zusammenhänge zwischen Einzelerkenntnissen lassen sich nicht anders darstellen als eben in einer Theorie. Und nur eine Theorie kann den wissenschaftlichen Beitrag zu einer Praxisveränderung liefern.

      Damit sind wir beim Verhältnis von Theorie und Praxis. In der öffentlichen Diskussion wird dieses Verhältnis meistens so gesehen, wie es Kant in seiner berühmten Streitschrift zitiert: »Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis.«8 Nach dem hier vorgestellten Theoriebegriff für die empirischen Sozialwissenschaften muss man eher den Satz des Psychologen Kurt Lewin für richtig halten: »Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie.«9

Empirische Sozialwissenschaft

      Was im Kapitel 1.1 zum Wissenschaftsbegriff gesagt wurde, muss uneingeschränkt auch für die empirischen Sozialwissenschaften zutreffen, wenn sie im beschriebenen Sinn als Wissenschaften gelten wollen. »Wissenschaft« ist der Oberbegriff, so dass alle seine Merkmale in jeder Sozialwissenschaft anwendbar sein müssen. Von anderen Wissenschaften, also ebenfalls konkreten Unterbegriffen von »Wissenschaft«, können und/oder müssen Sozialwissenschaften sich aber in zweierlei Hinsicht unterscheiden.

      Eine erste Besonderheit könnte aus dem Gegenstand der Sozialwissenschaften kommen, also aus der Tatsache, dass die Sozialwissenschaften die Gesellschaft erforschen. Ein häufiger Ansatz zur Unterscheidung von Wissenschaften geht davon aus, dass jede Wissenschaft eigene Gegenstände und/oder Methoden habe. Daraus leiten wir die Überlegung ab, dass bestimmte Gegenstände auch bestimmte Methoden verlangen bzw. ausschließen. So brauchen die Sozialwissenschaften Methoden, mit denen sie die Selbstdeutungen ihres Gegenstandes ermitteln können; die Geologen können darauf besten Gewissens verzichten. Andererseits können Sozialwissenschaftler keine Methoden benutzen, durch die ihr Gegenstand vernichtet oder auch nur wesentlich verändert wird. Müssten sich die Ingenieurwissenschaften damit begnügen, was sie zerstörungsfreie Prüfverfahren nennen, hätten sie sicherlich noch viel engere Grenzen ihres Wissens. Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsethik haben hier wieder einen Berührungspunkt. Wer sich zu verdeckter, teilnehmender Beobachtung in eine Selbsthilfegruppe jugendlicher Drogenabhängiger einschleicht und die Ursache der Therapieerfolge im missionarisch-religiösen Eifer eines Meinungsführers genau herauspräpariert, hat sich damit einen viel beachteten Aufsatz und der Wissenschaft vielleicht eine wichtige Erkenntnis verschafft; ob diese aber sozial – und wir hatten Wissenschaft von ihrer sozialen Aufgabe her definiert! – gerechtfertigt ist, wenn wegen dieser Erkenntnis die Gruppe zerbricht, ist eine andere Frage. Schließlich ist in der Gesellschaft vieles auch bei schonendsten Forschungsmethoden auf natürliche Weise vergänglich und nicht unveränderlich, beliebig reproduzierbar oder nach Wunsch herstellbar wie bei vielen Objekten der Physik oder Chemie. Unter den Naturwissenschaften leiden bisher vor allem die Biologie und zunehmend die Geowissenschaften unter ähnlichen Erkenntnisgrenzen wie die Sozialwissenschaften.

      Eine zweite Besonderheit könnte aus der Bestimmung kommen, dass die Sozialwissenschaften empirisch sein sollen. Hatte ihr Gegenstand sie eben vornehmlich gegen die Naturwissenschaften abgegrenzt, so stimmen sie hier mit ihnen überein; Naturwissenschaften sind stets empirisch. Die Sozialwissenschaften setzen sich mit dem Adjektiv »empirisch« gegenüber den Wissenschaften ab, die sich selbst als nicht empirisch bezeichnen oder bei denen Empirie schwer vorstellbar ist. Wenn Theologen den Sinn der Weltuntergangsprophetie oder Literaturwissenschaftler die Absicht des Dichters des Hildebrandsliedes darstellen wollen, so ist das empirisch nicht möglich. Empirisch arbeiten heißt: die Theorie an der Wirklichkeit überprüfen; dahinter steht die bereits aufgestellte Definition der Theorie als ein System von Sätzen mit Seinsaussagen über Wirklichkeit. Dann muss sich die Richtigkeit einer Theorie in der erfahrungsmäßigen Konfrontation mit der Wirklichkeit erweisen. Dazu muss der Gegenstand »wirklich« sein können. Die gegenwärtige Gesellschaft ist es; eine vergangene ist es in eingeschränktem Sinn, weil viele notwendige Daten nicht mehr beschafft werden können; eine zukünftige Gesellschaft ist jetzt nicht überprüfbar, weil es über sie zur Zeit genauso wenige Daten gibt wie über die Schlacht bei Hermagedon.

      Der Vorteil einer empirischen Wissenschaft beruht auf methodologischen Gründen. Eine empirische Wissenschaft kann eine andere Art von Wahrheit bieten als rein gedankliche, dann meist »theoretisch« genannte Aussagen. Gedankliche Aussagen können auf zweierlei Weise zu dem Urteil führen, sie seien »wahr«. Erstens könnte jemand sie für wahr halten, weil sie ihm plausibel erscheinen. Das mag daran liegen, dass er Ähnliches selbst erlebt oder schon gelesen oder gehört hat; vielleicht denkt er auch nur so ähnlich wie der »Forscher«. Das wäre ein Urteil über die materielle Wahrheit der Aussage, also ein Urteil über die Wahrheit des Inhalts der Aussage. Aber diese Aussage wäre nur subjektiv wahr. Nur weil dieser Mensch diese Erfahrung gemacht hat, diese Vorinformation besitzt oder diese Denkstrukturen hat, erscheint ihm die Aussage plausibel. Wer diese Voraussetzungen nicht aufweisen kann, findet auch diese Aussage nicht plausibel. Zweitens könnte man eine Aussage für wahr halten, weil sie logisch ist, d. h. in einem denkregelmäßigen Zusammenhang mit einer anderen Aussage steht, die bereits als wahr gilt. Das wäre zwar ein Urteil über objektive Wahrheit, weil die Konkordanz mit Denkregeln nicht nur auf Grund der Erfahrungen eines bestimmten Menschen festgestellt werden kann. Aber es wäre auch nur eine formelle Wahrheit, weil Logik nie über die Richtigkeit von Inhalten einer Aussage, sondern nur über die Zulässigkeit unter formellen Gesichtspunkten entscheidet. Theoretische Arbeit kann also nur subjektiv-materielle oder objektiv-formelle Wahrheit liefern.

      Das Bestreben einer empirischen Wissenschaft geht dahin, auch objektivmaterielle Wahrheit zu bieten. Das ist für die Sozialwissenschaften ein besonders wichtiges Ziel, weil sie – wie etwa Chemie und Biologie, aber im Gegensatz zur Mathematik, die keine materiellen Gegenstände hat – nur über Gegenstände forschen, die in einem allerdings sehr weiten Sinn materiell sind. Bei Gruppen, Kasten und Familien ist das leicht vorstellbar; aber auch soziales Handeln, Sozialisation und ähnliche beobachtbare Prozesse und selbst solche gedanklichen Konstrukte wie Rollen und Verhaltensmuster sind in diesem Sinn materiell, weil sich ihre Existenz durch Untersuchung ihrer Wirksamkeit in Bewusstsein und Verhalten nachweisen lässt. Im Vergleich dazu sind manche Gegenstände der Geisteswissenschaften in einem viel handfesteren Sinn materiell: als Denkmäler, gesprochene Worte, geschriebene Romane und Partituren. Aber bei ihnen interessiert weniger ihre »objektive« Seite, ihre regelmäßige sichtbare Struktur. Sie werden eher auf ihre subjektiven Absichten, Verwendungen, Interpretationen und Wirkungen befragt. Wo es dagegen in gesellschaftsbezogene Fragestellungen übergeht – etwa Verbreitung des Schülerjargons, Zusammenhänge zwischen Vorliebe für bestimmte Literatur und bestimmte Formen zwischenmenschlichen Verhaltens oder schichtenspezifische Unterschiede beim Konzertbesuch –, geht es zumeist auch schon von der Sprach- und Musikwissenschaft in eine spezielle Sozialwissenschaft hinüber, weil hier nur empirisch zu klärende Sachverhalte das Thema sind.

      Alles in allem muss also die Wissenschaftstheorie der Sozialwissenschaften darauf Rücksicht nehmen, dass ihre Gegenstände erstens historisch (= zeitgebunden) und oft kulturspezifisch sowie zweitens zumeist selbst handlungs- und selbstdeutungsfähig sind. Darin besteht der Unterschied zur Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften, mit denen die Sozialwissenschaften aber den grundsätzlich empirischen Ansatz gemeinsam haben. Dieser unterscheidet sie von den Geisteswissenschaften.

Wissenschaftstheorie

      Man könnte versucht sein, für die Festlegung des Begriffs der Wissenschaftstheorie von dem in Kapitel 1.1.3 aufgestellten Theoriebegriff auszugehen. Es ist jedoch fraglich, ob das ein sachlich gerechtfertigter Oberbegriff ist. Denn der allgemeine Theoriebegriff hat Wissensaussagen zum Gegenstand, wenngleich auf oft relativ hypothetischem Niveau.

      In der Wissenschaftstheorie kann es aber kaum um Wissen in dem Sinn gehen, wie in Kapitel

Скачать книгу