Grundlagen der Visuellen Kommunikation. Stephanie Geise
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Was hier bereits angedeutet wird, ist für Visuelle Kommunikationsforschung essentiell: Deutung und Bedeutung, Interpretation und Sinn eines Bildes sind, jeweils auf unterschiedliche Weise, kontextabhängig. Während bei dem Prozess der Deutung bzw. der Interpretation die Person des Interpreten einen subjektiven Interpretationsfaktor darstellt, der das Ergebnis des Deutungsprozesses beeinflusst, sind die analysierten Bildbedeutungen auch von den jeweiligen Produktions- und Rezeptionskontexten abhängig, innerhalb derer die Deutung erfolgt. Dem identischen Bildmotiv können intersubjektiv, aber auch interkulturell ganz unterschiedliche, manchmal sogar konträre Bedeutungen zugewiesen werden, abhängig von dem jeweiligen Interpreten, seinem Kenntnisstand, seiner Erfahrung mit ähnlichen Bildmotiven und seiner eigenen kulturellen Prägung. So kann eine Karikatur, die zum Ziel hatte, das Publikum, für die sie entworfen wurde, zu amüsieren, in einem anderen kulturellen Rezeptionskontext als verletzend, wenn nicht sogar als beleidigend empfunden werden. In einem weitgehend globalisierten Rezeptionskontext spielen so auch interkulturelle Überlegungen bereits bei der Bildproduktion eine Rolle. Wie unten am Beispiel deutlich wird, ist es für die Bildanalyse und Bildinterpretation daher entscheidend, den konkreten »Bildeinsatz« (und damit die Frage: Wie wurde das Bild in welchem Kontext eingesetzt?) zu berücksichtigen, da sich konkrete Bildbedeutungen und daraus resultierende emotionale Reaktionen oft nur aus dem konkreten Bildeinsatz und dem spezifischen Rezeptionskontext erklären lassen. Bildbasierte Spannungen und Konflikte können sich aus der Bedeutungsverschiebung ergeben, die zwischen ursprünglichem Produktionskontext und dem Transfer in einen anderen kulturellen Rezeptionskontext entsteht. Dabei gilt es sowohl die zeitliche als auch die räumliche Dimension der Kontexte zu beachten. Mithin führt die zeitliche Distanz zu einer Entkontextualisierung der Bildbedeutung, aber auch die räumlich-kulturelle Distanz kann das Bild entkontextualisieren.
Um die Rolle von Deutung, Bedeutung und Bildeinsatz an einem Beispiel zu erläutern: Die kolumbianische Präsidentschaftskandidatin Ingrid Betancourt befand sich bereits über fünf Jahre in den Händen der militanten FARC-Guerilla als eine Fotografie (vgl. Abb. 9, S. 43) von ihr veröffentlicht wurde. Formal betrachtet handelt es sich hierbei um eine querformatige Farbfotografie, die eine sitzende Frau mit gefalteten Händen und langem dunklen Haar aus leicht aufsichtiger Perspektive darstellt. Der Blick der Frau ist nach unten gerichtet. Sie erscheint dünn, ausgemergelt und ist sehr blass. Sie ist sitzend auf einer einfachen Holzbank porträtiert, vor ihr ein Brett, das auf vier Holzpfeiler gelegt ist und eine Art Tisch darstellt, auf dem links hinten ein weißes Gefäß steht sowie zwei Holzstäbe, die wie Pinsel aussehen. Die Szene ist umgeben von dünnen Baumstämmen und Blattwerk. Die leidende, passiv erscheinende Haltung Betancourts, ihr abwesender Blick, aber auch ihre langen Haare erinnern an Madonnenbildnisse und tragen dazu bei, eine beinahe spirituelle Aura zu erzeugen. Die Darstellung, so ließe sich folgern, impliziert damit die Aufforderung, dem leidenden Menschen zu helfen. Die Fotografie ist ein Standbild aus einer Video-sequenz, die von den Geiselnehmern aufgenommen wurde, vermutlich am 24. Oktober 2007, und die im Gepäck von festgenommenen FARC-Guerrilas entdeckt wurde (STERN.DE 30.11.2007).
Abb. 9: Die ehemalige kolumbianische Präsidentschaftskandidatin Ingrid Betancourt als Geisel der militanten FARC 2007, mehr als fünf Jahre nach ihrer Entführung im Februar 2002
Die Intentionen der Geiselnehmer als Filmproduzenten sind nicht dokumentiert. Es ist jedoch nicht das erste Video, dessen Zweck es war, zu demonstrieren, dass Ingrid Betancourt noch am Leben war. Die ersten beiden Videos zeigten Betancourt ein halbes Jahr sowie ein Jahr nach ihrer Entführung. In beiden Videos sprach sie die Zuschauer unmittelbar an und wandte sich den Betrachtern direkt zu, auf gleicher Augenhöhe. Danach folgten viele Jahre ohne Lebenszeichen, bis zu dem Video vom Oktober 2007, in dem Ingrid Betancourt jeden Augenkontakt mit der Kamera meidet. Das Video ist aufsichtig gefilmt und bringt stilistisch die überlegene Machtstellung der Geiselnehmer zum Ausdruck, während die Geisel als weibliches Opfer dargestellt wird, das ohnmächtig, scheinbar kraft- und willenlos auf den Boden starrt. Ihr Habitus kann jedoch auch, vor allem im Vergleich zu den beiden Jahren zurückliegenden Videoaufnahmen, als eine bewusste Verweigerungshaltung gegenüber den Geiselnehmern interpretiert werden.
Abb. 10: Ein Plakat mit einem Ausschnitt der Fotografie von Ingrid Betancourt bei einer Demonstration für ihre Freilassung am 6. April 2008. Das Plakat wird gehalten von Cristina Fernandéz de Kirchner (Präsidentin Argentiniens seit 2007).
Diese ohnmächtig erscheinende Darstellung der physisch und psychisch erschöpften Geisel durch ihre Geiselnehmer erfährt eine Umdeutung, wenn ein Ausschnitt des Bildes Teil einer öffentlichen Demonstration zur Befreiung Betancourts wird (vgl. Abb. 10). Das Video war der erste konkrete Lebensbeweis Betancourts seit 2003. Für den Bildeinsatz auf einer politischen Demonstration wurde die querformatige Vorlage in ein auf die Abbildung Betancourts reduziertes Hochformat umgewandelt. Es lässt sich vermuten, dass das Porträt Assoziationen weckt wie die Niedergeschlagenheit der Geisel, ihre Ohnmacht und Hilflosigkeit und empathische Reaktionen in den Betrachtern hervorruft. Das Plakat auf Abb. 10 verdeutlicht zudem, was das Anliegen der Solidaritätsdemonstration ist – und dies auch noch Jahre später. Ohne dieses Bild im Bild wäre das Anliegen der Demonstranten uneindeutig. Dem ikonischen Porträt Betancourts sind zudem appellative Texte beigefügt: »Preuve de Vie. Preuve D’Urgence«, was in etwa mit »Lebensbeweis. Zeit zu handeln« übersetzt werden kann. Die Dringlichkeit des Handelns wird assoziativ betont durch die rote Farbe, in der das Wort »Urgence« gedruckt ist. Am unteren Rand des Protestplakates wird auf die Adresse einer Website verwiesen: »www.agirpouringrid.com«. Die Prägnanz der Pressefotografie wird zudem durch die Prominenz der Person gesteigert, die das Plakat in die Höhe hält – die Präsidentin Argentiniens, Cristina Fernandéz de Kirchner, von deren offizieller Website auch die Fotografie stammt. Der Motivtransfer des Videostils führt so zu einer komplexen Umdeutung der Darstellung Ingrid Betancourts, deren Leidensdarstellung schließlich zu einem deutlichen, an die Mitmenschlichkeit der Betrachter und der Politik gerichteten Appell wird, Ingrid Betancourt zu befreien. Dies glückte einige Monate nach der Demonstration in einer gewagten Aktion des kolumbianischen Militärs. Inwiefern der öffentliche und diplomatische Druck zu ihrer Befreiung beigetragen haben, ist unklar, aber die Existenz einer derartigen »Opferikone« bündelte die Aussage visuell und aktualisierte die Forderung nach einem politisch-militärischen Eingreifen. Hier wäre es plausibel anzunehmen, dass der Bildniseinsatz und die damit implizierte Handlungsaufforderung sowie dessen Wahrnehmung und Deutung eine aktivierende Wirkung gehabt haben. Da die Frage nach möglichen Wirkungen jedoch vor allem eine empirische ist, könnte lediglich eine nachträgliche Analyse des Rezeptions- und Wirkungskontextes der Geiseldarstellung den hier plausibel vermuteten Einfluss des Bildes auf die Wahrnehmung der Rezipienten, und besonders der kolumbianischen Entscheidungsträger empirisch rekonstruieren (zur Rezeptions- und Wirkungsanalyse vgl. Kapitel 5).
Wie das obige Beispiel gezeigt hat, ist es für die Visuelle Kommunikationsforschung nicht nur relevant, Bildbedeutungen in Hinblick auf ihren Gestaltungskontext zu analysieren. Vielmehr müssen die Bedeutungstransfers, die sich auf allen drei Kontextebenen (vgl. Abb.