Grundlagen der Visuellen Kommunikation. Stephanie Geise
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Die Bedeutung des Bildes ändert sich erst durch den beigefügten Text. Der Name des Abgebildeten ist Anders Breivik. Durch den Text wird zum einen die Identität des Porträtierten vermittelt, aber auch dessen vermutliche regionale Herkunft, da es sich um einen skandinavischen Namen handelt. Erst die multimodale Wechselwirkung zwischen Bild und Text stellt eine Sinneinheit zwischen Bezeichnetem und Abgebildetem her. Aber selbst wenn nun die Identität des Abgebildeten bekannt ist, erzeugt dies noch keine emotionale Reaktion bei den Betrachtern, solange kein weiteres Wissen über die abgebildete männliche Person besteht.
Einen erneuten Bedeutungswandel erfährt die Abbildung durch Kontextwissen aus der Rezeption des Bildes. Zum Aufnahmezeitpunkt der Fotografie war Anders Breivik einer von Millionen Norwegern, die ein Foto von sich haben machen lassen. Zum Zeitpunkt der medialen Wiederveröffentlichung dieses Porträts im Juli 2011 hatte der Rückblick auf den jungen Anders Breivik eine andere Bedeutung erlangt. Das Wissen, dass es sich bei Abb. 11 um ein frühes Porträt des späteren Attentäters von Oslo und Utøya handelt, der am 22. Juli 2011 insgesamt 77 Menschen bei einem Bombenattentat in Oslo und anschließend, zumeist Jugendliche, auf der Ferieninsel Utøya hinrichtete sowie zahlreiche Menschen schwer verletzte, ändert die Bedeutungszuweisung und die emotionale Reaktion der Betrachter. Der Rezeptionskontext wird so durch Wissen beeinflusst und führt zu unterschiedlichen kognitiven und emotionalen Reaktionen bei den Betrachtern. Die konkrete Wirkung des Bildes wird somit durch zwei Faktoren beeinflusst: durch die Relevanz des Bildes und des erweiterten Kontextwissens für den individuellen Betrachter sowie durch die ethisch-moralisch-politischen Bewertungen (Appraisals), die quasi automatisch vom Betrachter zur Beurteilung des Bildes getroffen werden (vgl. Müller/Kappas 2011).
Typisch für den digitalen Bildeinsatz ist, dass es nicht nur Textkommentare auf wahrgenommene Bilder gibt, sondern auch Bildkommentare. In diesem Fall wird ein Vorbild genommen und visuell verändert, bevor es online publiziert und damit potenziell global verbreitet wird. Abb. 12 auf S. 50 stellt einen von vielen solcher Bildkommentare dar.
Das Proträtfoto Breiviks wird hier als visuelle Grundlage genommen und manuell ein rotes Kreuz über das Gesicht Breiviks gezogen, darunter die englische Textaufforderung »DIE« – »Stirb!«. Der visuelle Kommentar – das Durchstreichen – und der Textkommentar ergänzen und verstärken sich hierbei wechselseitig. Die Porträtvorlage nimmt damit eine zusätzliche Bedeutung an, neben der Identifikation des Attentäters nun auch die emotionale Reaktion der Wut und des Wunsches, den Täter auszulöschen. Dabei greift der Prosumer von Abb. 12 ein stilistisches Mittel auf, das aus der visuellen Nachrichtenkommunikation stammt und das von dem ehemaligen Leitmedium der US-Presse – dem Nachrichtenmagazin TIME – bereits viermal prominent auf der Titelseite veröffentlicht wurde.
Der anonyme FACEBOOK-Blogger und Urheber von Abb. 12 könnte von dem zeitlich nahegelegenen Titelbild des TIME-Magazins (Abb. 13, S. 51) beeinflusst worden sein, das die Ermordung des Al-Qaida Topterroristen Osama Bin Laden mit Hilfe eines roten Kreuzes visualisiert, das sein Gesicht durchzieht. Der Unterschied zu dem Breivik-Porträt (Abb. 11, S. 48) ist jedoch, dass bei der Gestaltung des Bin-Laden-Covers (Abb. 13, S. 51) die oberen Enden des roten X verwischt sind, so als ob es sich um herunterlaufendes Blut handele. Die Farbe Rot sowie die formale Blutassoziation weisen dabei zum einen darauf hin, dass der getötete Terrorist Blut von vielen Menschen an den Händen hat, als auch auf die Art seines eigenen gewaltsamen Todes.
Abb. 12: Modifiziertes Porträt des Attentäters von Oslo und Utøya, Anders Breivik auf einer privaten FACEBOOK-Seite
Auf der Ebene des Formkontextes (Abb. 1, S. 25) ist interessant, dass sich das Motiv des mit rotem X durchgestrichenen Porträts ikonografisch in eine lange Reihe visueller Darstellungen einordnen lässt, die zu der erstmaligen Verwendung der TIME-Ausgabe im Mai 1945 zurückzuverfolgen ist, bei der der Sieg über Adolf Hitler und dessen Tod visuell verkündet wurden. Auch die Hinrichtung Saddam Husseins wurde im April 2003 mit den gleichen gestalterischen Mitteln behandelt sowie der Tod des Al-Qaida-Terroristen Abu Musab al-Zarqawi im Juni 2006. Auf der Produktionsebene (vgl. Abb. 1, S. 25) findet hierbei eine Adaptation eines professionell-journalistischen Kontextes durch einen privaten Prosumer-Kontext statt. Die potenziellen Bedeutungen im Rezeptionskontext (Abb. 3) sind durch eine grenzüberschreitende, potenziell global verständliche Bildsprache charakterisiert. Dabei wird die bildimmanente Bedeutung des ausgelöschten Täters und Feindes verdichtet. Während auf den TIME-Titelseiten auf Abb. 13, S. 51 eine Tatsache visualisiert wird – alle dargestellten Männer waren zum Zeitpunkt des Erscheinens des Nachrichtenmagazins bereits tot – lässt sich das rote X über Breiviks Gesicht als visualisierte Wunschvorstellung lesen. Das digitale Bild verdichtet die Bildbotschaft und erzeugt neue Bildmuster, die aus massenmedialen Kontexten stammen und überträgt sie auf nutzergenerierte Netzwerkkontexte, die zu einer globalen Verbreitung ursprünglich national und kulturell begrenzter visueller Ausdrucksformen führten. Das eigentliche Bildmotiv wird somit transportabel, von einem konkreten Trägermedium gelöst und zugleich global verfügbar für weitere Bildeinsätze, die zu Bedeutungsintensivierungen und -ergänzungen, aber auch zu Bedeutungswechseln führen können.
Abb. 13: TIME-Titelbilder: Osama Bin Laden (20. Mai 2011), Adolf Hitler (7. Mai 1945), Saddam Hussein (21. April 2003), Abu Musab al-Zarqawi (19. Juni 2006)
4 Von der Bildbeschreibung zur Bildinterpretation
4.1 Wie beschreibe ich Bilder?
Als wissenschaftliches Handwerk, das von jedem Menschen erlernt werden kann, ist die Bildbeschreibung keine natürlich gegebene Fähigkeit, sondern ein komplexer Prozess, der bis zur Kunstfertigkeit gesteigert werden kann. Dabei ist die Bildbeschreibung kein Selbstzweck, sondern ein Schritt auf dem Weg zur Bildinterpretation. Der Kunsthistoriker und Begründer der ikonografisch-ikonologischen Methode, Erwin Panofsky (1892–1968), widmete dem »Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst« bereits 1932 einen vielbeachteten und noch immer aktuellen Aufsatz. Darin schlägt er für die Bedeutungsanalyse von Kunstwerken ein Dreischrittschema vor, beginnend mit der Beschreibung, gefolgt von der Bedeutungsanalyse (vgl. Kapitel 4.2) und abgerundet durch die Interpretation (vgl. Kapitel 4.3). Diese Trennung in drei Ebenen ist idealtypisch, denn in der Praxis gibt es oft Überschneidungen zwischen den Beschreibungs-, Analyse- und Interpretationselementen. In Panofskys Worten (1932/1987: 187) wird jede »Deskription […] – gewissermaßen noch