Basiswissen Pädagogik bei Verhaltensstörungen. Thomas Müller J.J.

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Basiswissen Pädagogik bei Verhaltensstörungen - Thomas Müller J.J.

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Um Transfers und Vernetzungen zu ermöglichen, schließen sich Fragen zur Vertiefung und Erweiterung an. Die dazugehörigen Antworthorizonte sind als Online-Material verfügbar und verstehen sich nicht als abschließende Lösung, sondern als Anregungen und erster Zugang zu möglichen Antworten. Zudem findet sich am Ende eines Kapitels jeweils ein Literaturhinweis zur weiteren Vertiefung.

      2 Herkunft und Zukunft

      Die Pädagogik bei Verhaltensstörungen ist eine „junge“ Disziplin. Ihre Entstehung ist auf verschiedene Strömungen und zeitgeschichtliche Umstände zurückzuführen. Ihr heutiges „Gesicht“ ist nur unter Betrachtung ihres Herkommens erkennbar. Aus dieser Sicht lassen sich die Gegenwart verstehen und aktuelle sowie möglicherweise zukunftsweisende Entwicklungen aufzeigen.

      Ausgangspunkt der Befassung mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen ist ein ab dem 17. Jahrhundert gesinnungsethisch geprägtes Handeln, das im 19. Jahrhundert durch eine verantwortungsethische Praxis abgelöst wird (s. thematische Skizze 1).

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      Thematische Skizze 1: Ideengeschichtliche Aspekte zur Herkunft der Pädagogik bei Verhaltensstörungen

      Die Pädagogik bei Verhaltensstörungen als universitäre Disziplin hat ihren Ursprung erst in den 1960er Jahren. Kinder und Jugendliche, die man heute als verhaltensauffällig, erziehungsschwierig oder emotional und sozial förderbedürftig bezeichnet, gibt es jedoch weitaus länger – stets abhängig von zeitgeschichtlichen Sichtweisen. Wo und wann genau die Beschäftigung mit diesen Kindern und Jugendlichen ihren Ausgangspunkt nimmt, lässt sich nicht sagen. Allerdings stechen über Epochen hinweg einzelne Personen besonders hervor. August Hermann Francke gründete ab 1695 die Halleschen Anstalten. Geprägt ist diese Gründung von pietistischen Motiven und einer gesinnungsethischen Haltung, in der die eigenen Werte und Moralvorstellungen in ein Handeln einfließen, das darauf ausgerichtet ist, eben jene Werte zu realisieren, ohne auf die Folgen des Handelns für die Betroffenen zu achten. Für Francke hieß das nicht nur eine Versorgung und Beschulung von sogenannten sittlich verwilderten Kindern und Jugendlichen, sondern auch ein Verbot des seiner Meinung nach unnützen Spiels und den Einsatz der Prügelstrafe. Francke steht stellvertretend für andere religiös motivierte Pädagogen und Anstaltsgründungen im 17. Jahrhundert, die gesinnungsethisch geprägt waren. Erst mit einem stärker medizinischen Interesse im 19. Jahrhundert und beflügelt vom Geist der Aufklärung sowie der Überzeugung, dass der Mensch unabhängig von Behinderung bildbar sei (Herbart 1835), wendet sich das Blatt und Kinder und Jugendlichen werden

      „nun nicht mehr in moralischen Kategorien als ‚böse‘ und ‚sittlich verwildert‘ betrachtet […], sondern als ‚krank‘ und ‚schlecht erzogen‘ […]. Die im 19. Jahrhundert verbreitete Zuversicht, die Medizin könne jede Form von ‚Idiotie‘ und ‚Geisteskrankheit‘ heilen, wird im 20. Jahrhundert zunehmend abgelöst durch einen pädagogischen Optimismus, der sich auf der Idee gründete, kein Kind zurückzulassen, sondern alle Kinder ungeachtet ihrer persönlichen Befähigung optimal fördern zu können, sodass sie eine höhere Stufe der Entwicklung erreichen könnten“ (Willmann 2018, 51).

      Gesinnungsethisches Denken wandelte sich nach und nach in eine verantwortungsethische Praxis, die auf die Resultate des Handelns und ihre Verantwortbarkeit zielt. Für die Pädagogik bei Verhaltensstörungen können beispielhaft Johannes Trüper und die 1890 gegründete Sophienhöhe bei Jena oder Johann Hinrich Wichern und das 1833 gegründete „Rauhe Haus“ in Hamburg genannt werden.

      Mit Aufkommen der Psychoanalyse im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert und dem gesteigerten Interesse am inneren Erleben des Menschen entsteht die Einsicht, dass sich hinter dem offensichtlichen Verhalten von Menschen innere Notwendigkeiten, ein subjektiver Sinn verbergen kann. Diese Anerkennung eröffnete, geprägt durch August Aichhorn, pädagogisch einen anderen Blick auf kindliches Verhalten und Erleben, eine neue Dimension der pädagogischen Handlungsmöglichkeiten. Bedeutsame Gründungen, die von diesem Geist geprägt sind, gehen auf Fritz Redl (Pioneer House) sowie auf Bruno Bettelheim (Orthogenic School) zurück.

      Fragen zum Verständnis:

      Was ist mit Gesinnungsethik gemeint?

      Was trug dazu bei, dass gesinnungsethisches Handeln durch eine verantwortungsethische Praxis ersetzt werden konnte?

      Welche Bedeutung hat die Entwicklung der psychoanalytischen Pädagogik für die Pädagogik bei Verhaltensstörungen?

      Fragen zum erweiterten Verständnis und zur Vertiefung:

      Comenius forderte bereits im 17. Jahrhundert für die Schule, „alle alles zu lehren“. Was bedeutet dies mit Blick auf die Diskussion um Inklusion; und was lässt sich daraus lernen, dass dieser Gedanke über die Jahrhunderte immer wieder verloren ging?

      Wodurch lässt sich der für die Sonderpädagogik so wesentliche pädagogische Optimismus angesichts bisweilen aussichtslos erscheinender Situationen mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen rechtfertigen?

      Bruno Bettelheim prägte als psychoanalytischer Pädagoge den Ausspruch „Liebe allein genügt nicht!“. Was ist damit gemeint?

      

Antworthorizonte als Online-Material verfügbar.

      

Grundlagenliteratur:

      Göppel, R. (1989): „Der Friederich, der Friederich …“. Das Bild des erziehungsschwierigen Kindes im 19. und 20. Jahrhundert. Edition Bentheim, Würzburg

      Der gesellschaftliche, aber auch der „pädagogische“ Umgang mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen war in der Vergangenheit immer wieder von Ablehnung, Ausschluss und Vernichtung geprägt. „Die Geschichte der gesellschaftlichen Konstruktion des ‚Anders-Seins‘ führt von der Dämonologisierung und Moralisierung in der Frühzeit und im Mittelalter bis zur Biologisierung und Pathologisierung in der Neuzeit […]“ (Willmann 2018, 51).

      In der jüngeren deutschen Geschichte sind insbesondere der Umgang der Nationalsozialisten, aber auch der des DDR-Regimes mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen eindrückliche Negativbeispiele (s. thematische Skizze 2).

      Die Nationalsozialisten bestimmten den Wert von Menschen mit Behinderung bezogen auf Rasse und gesellschaftlichen Nutzen, wobei vor allem die Arbeitsfähigkeit zählte. Der aus diesen Kriterien bestimmte „volkswirtschaftliche Wert“ (Ellger-Rüttgardt 2019, 245) entschied über Leben und Tod. Verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche bezeichnete man als Asoziale, als arbeitsscheu, schmarotzerisch und aufrührerisch. Sie galten als pädagogisch nicht beeinflussbar und hatten einen besonders geringen Status in der Gesellschaft des Dritten Reichs (Müller 2014). Man sagte ihnen nach, einen schlechten Charakter zu besitzen und äußerst raffiniert vorzugehen (Ellger-Rüttgardt 2019), unterstellte ihnen also Vorsatz. In den Schulen war kein Platz für solche Kinder und Jugendliche, wozu auch diejenigen zählten,

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