Basiswissen Pädagogik bei Verhaltensstörungen. Thomas Müller J.J.

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Basiswissen Pädagogik bei Verhaltensstörungen - Thomas Müller J.J.

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zugeschrieben (Müller 2014). Gleichzeitig sah das NS-Regime in diesen Kindern und Jugendlichen besonderes Potenzial, sie für den Führerkult zu begeistern. Der gesamte Propagandaapparat war auf die Formung und Gestaltung des „Volkskörpers“ ausgerichtet – „die unbedingte Unterordnung des Individuums unter den absoluten Vorrang der Volksgemeinschaft“ (Ellger-Rüttgardt 2019, 243). Mit dem „richtigen rassischen Wert“ und potenziellen Nutzen für das Volk, wurde die Hitlerjugend als Besserungsanreiz in Aussicht gestellt. Dort konnten verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche ihren volkswirtschaftlichen Wert unter Beweis stellen, ihre Behinderung auszugleichen versuchen und dem Vaterland dienen.

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      Thematische Skizze 2: Sicht auf verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche im Nationalsozialismus und in der DDR

      „Jugendliche, die als sozial auffällig und sittlich verwahrlost galten, wurden ab 1940 […] Jugendschutzlagern […] zugeführt und zur Zwangsarbeit verpflichtet. In den 1970er Jahren wurden diese Lager in Westdeutschland als Konzentrationslager anerkannt“ (Müller 2014, 224).

      Letztendlich sah die NS-Sozialpolitik in verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen keinen Nutzen. Vielmehr galten sie als Gefahr für die „arische Rasse“ und wurden als „Minderwertige“, als „Parasiten am deutschen Volkskörper“ diskreditiert (Baringhorst / Böhnke 2017). Weder begegnete man ihnen mit Verständnis, noch wurde ihnen Unterstützung zuteil, dafür jedoch Verachtung, Demütigung und Hass. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs ging der Wiederaufbau des Sonderschulwesens nur schleppend voran. Die wenigen verbliebenen Hilfsschulen waren aufgrund der negativen Bewertung behinderter Menschen zur Zeit des Nationalsozialismus in katastrophalem Zustand.

      Erziehung und Bildung wurden in der DDR maßgeblich durch den Einfluss des ukrainischen Pädagogen Anton Semjonowitsch Makarenko geprägt. Dieser galt als der einflussreichste Pädagoge der Sowjetunion. Das Leitziel seiner Bemühungen war, „den neuen Menschen zu schaffen“ (Zimmermann 2004, 52). Anfang der 1920er Jahre leitete Makarenko Arbeitskolonien, in denen „verwahrloste“ Kinder Disziplin lernen und resozialisiert werden sollten. Ein Verständnis von Erziehung als wechselseitigem Prozess und gegenseitiger Abhängigkeit fehlte bei Makarenkos Überlegungen. Auch Interessen, Fähigkeiten und Bedürfnisse der zu Erziehenden wurden nicht berücksichtigt. Vielmehr sollte ein klares Machtgefälle zwischen Erzieher und Zögling vorherrschen.

      Die DDR übernahm Makarenkos pädagogische Lehren, verfälschte sie aber auch. Die Erziehung so genannter verhaltensabweichender Kinder und Jugendlicher fand in der DDR in Form von „Umerziehung“ statt. Oberstes Ziel war das Schaffen von sozialistischen Persönlichkeiten, die sich dem Kollektiv unterordnen. Paradigma war die „Machbarkeit von Erziehung“: Damit war zum einen die Realisierbarkeit von Erziehung gemeint, zum anderen die Manipulierbarkeit von Kindern und Jugendlichen. Sozialpädagogische Fragen hatten lange Zeit keinen großen Stellenwert, obwohl diese bei genauerer Betrachtung wichtig für die Umsetzung des sozialistischen Grundgedankens gewesen wären. Erziehung und Bildung sollten universal vermittelt werden, um die Kosten möglichst niedrig zu halten und das Einheitsgefühl der Gesellschaft zu stärken. Sozial- und Rehabilitationspädagogik mussten sich der Volksbildung unterordnen. Ab 1965 entstand eine Verhaltensgestörtenpädagogik in Ostdeutschland. Gesellschaftliche Erklärungen für Verhaltensstörungen wurden nicht anerkannt (Müller 2014, 224). Vielmehr führte man auffälliges Verhalten auf intra- und interpersonelle Gründe zurück, was einer reinen Schuldzuweisung an die betroffenen Kinder und Jugendlichen und deren Familien gleichkam. Man war zudem bestrebt, das Wissen in der Bevölkerung über die Existenz von Förderschulen möglichst gering zu halten, denn sie wurden als ein Eingeständnis für das Versagen des Schulsystems angesehen. Dennoch gab es „Sonderschulen mit Ausgleichsklassen für Verhaltensgeschädigte“, jedoch durfte diese Schulform nur von der zweiten bis zur vierten Klasse besucht werden. Wer auffällig wurde und sein Verhalten nicht unter Kontrolle bekam, war schnell ein Fall für Fremdunterbringung. Es gab ein hierarchisch aufgebautes System unterschiedlicher Institutionen, das sich nach der Schwere der Auffälligkeiten richtete. „Verhaltensabweichende“ Kinder und Jugendliche wurden per Zwangseinweisung aus ihrem „erziehungsunfähigen“ Umfeld genommen und sollten in Abgeschiedenheit diszipliniert werden. Deshalb waren alle Einrichtungen örtlich von Regelschulen getrennt und lagen teilweise an entlegenen Orten, um den Einfluss auf Regelschüler und die Aufmerksamkeit innerhalb der Gesellschaft zu minimieren. Von Einrichtung zu Einrichtung verschärften sich die Maßnahmen. Arbeitsmaßnahmen wurden härter, Freizeit weniger und Besuchszeiten seltener. Kinder und Jugendliche „wanderten“ von Aufnahmeheimen über Spezialheime zu Jugendwerkhöfen. Als ultima ratio galt der Geschlossene Jugendwerkhof Torgau. Bereits in Aufnahme- und Spezialheimen herrschte extreme Strenge. Der Geschlossene Jugendwerkhof Torgau zeichnete sich zudem durch besondere Härte aus. Militärischer Drill war an der Tagesordnung, der Alltag war reglementiert, penibel getaktet und permanent überwacht. Gegen Regelverstöße wurde drastisch vorgegangen: Durch Kollektivstrafen sollte dem Einzelnen vor Augen geführt werden, was sein Fehlverhalten angerichtet habe. Arrest und Züchtigung wurden für geringste Vergehen verhängt. Der Strafe selbst, unter Nutzung des Kollektivs, wurde eine erzieherische Wirkung zugeschrieben (Beyer / Strobl / Müller 2016). Die Willkür der Erziehenden fällt dabei besonders ins Auge: Bei vielen Maßnahmen ging es nicht um Erziehung, sondern darum, den Willen zu brechen und die Individualität der Insassen zu unterdrücken. Gerade die praktizierten Strafen wie Nachtisolierung, Zwangssport und Essensentzug verdeutlichen die Verletzung von Menschenrechten. „Verhaltensabweichende“ Kinder und Jugendliche passten nicht ins sozialistische Weltbild. Ihre besonderen Bedürfnisse standen im Konflikt mit der angestrebten Kollektiverziehung. Deshalb wählte man den Weg der Umerziehung, welcher sich vor allem durch Exklusion, harte Arbeit und überzogene Strafen definierte.

      Fragen zum Verständnis:

      Wie versuchte man im Dritten Reich, die Euthanasie an verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen zu rechtfertigen?

      In der DDR war „Fremdunterbringung“ die Universallösung für „verhaltensabweichende“ Kinder und Jugendliche. Welches Verständnis von Verhaltensstörungen liegt diesem Vorgehen zu Grunde?

      Fragen zum erweiterten Verständnis und zur

      Vertiefung:

      Verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche wurden in der NS-Zeit als „Asoziale“ bezeichnet und galten als „erbkrank“. Welche Rolle spielen soziale Einbindung und Vererbung jenseits von Ideologien für das Entstehen von Verhaltensauffälligkeiten?

      Warum bemühte man sich in der DDR nicht um alternative Bildungswege für verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche?

      

Antworthorizonte als Online-Material verfügbar..

      

Grundlagenliteratur:

      Beyer, C., Strobl, C., Müller, T. (2016): „Hier kommste nicht raus“. Geschlossener Jugendwerkhof Torgau: Endpunkt erzieherischer Willkür der SED gegenüber verhaltensabweichenden Jugendlichen. Schneider, Hohengehren

      Nach dem Zweiten Weltkrieg setzt der Ausbau eines vielgliedrigen Sonderschulwesens da an, wo er zuvor ins Stocken oder zum Erliegen gekommen war (s. thematische Skizze 3). Daher verbreiten sich auch Schulen für Erziehungshilfe in Deutschland mehr und mehr. Ausgangspunkt dieser Schulart waren Sonderklassen, die zu Beginn

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