Handbuch Wandertourismus. Gabriele M. Knoll

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Handbuch Wandertourismus - Gabriele M. Knoll

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gibt es Frühformen des Spaziergangs in der europäischen Geschichte, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen. Eine der Wurzeln des modernen Spaziergangs liegt im Siegeszug der Trinkkur, der in jene Zeit fällt. Die Promenade im Badeort, mit dem Trinkbecher in der Hand, um das heilende Wasser in kleinen Schlückchen während des Gehens zu trinken, war Teil der medizinischen Indikation. Doch die gemächliche Bewegung wurde nur dafür verordnet, um die Mineralien besser aufzunehmen, mehr Kontakt mit der Natur als in einem gepflegten Kurpark, wenn man schon den schützenden Raum einer Brunnenkolonade verlassen hatte, war nicht vorgesehen. Doch dieses Flanieren mit dem Becher im Kurbad gehört mit zu den Vorläufern des Sonntagsspaziergangs des Bürgers und seiner Familie.

      Eine andere Wurzel des heutigen Spaziergangs lässt sich mit dem Lustwandeln im Schlossgarten oder Schlosspark ausmachen. Hier wird schon durch die angedeuteten Orte klar, dass es sich um eine herrschaftliche Freizeitbeschäftigung gehandelt hat. Wenn auch das Erleben des repräsentativsten Teils einer Gartenanlage mit den kunstvoll gestalteten Beeten vor dem Hauptgebäude des Schlosses von der Beletage im ersten Stock oder der Schlossterrasse vorgesehen war, so gibt es doch Elemente in der barocken Gartenarchitektur, die einen Spaziergang voraussetzen. Dazu gehören beispielsweise die Laubengänge oder Boskette – Wäldchen, die als grüne Räume mit hohen beschnittenen Hecken zwischen den Bäumen zum Spazieren und Verweilen einladen.

      Noch stärker wird der Besucher im englischen Landschaftsgarten oder Landschaftspark, der nachfolgenden Gartenmode zur Fortbewegung per Pedes motiviert. Nur durch das Spazierengehen in ihm lässt sich das Konzept seines Schöpfers vollständig nachvollziehen und seine Blickachsen und Blickpunkte erleben. Eine schöne Aussicht wird zu einem wesentlichen Teil des Naturgenusses. Die Natur – auch wenn sie in diesem Fall nicht ganz so natürlich ist wie sie scheint, sondern eine gut arrangierte Komposition eines Gartenarchitekten ist – erhält damit ästhetische Werte. „Natur an sich ist schön“, diese Sichtweise (→ Kap. 1.2.2) hatte erst im 18. Jahrhundert begonnen sich zu entwickeln und damit neben der materiellen Nutzung der Landschaft nun auch einer kontemplativen Nutzung Gelegenheit zu geben.

      „Herrschaftliche Gärten, wie etwa in Hohenheim, standen dem bürgerlichen Reisenden zwar nach Anmeldung offen, doch noch war der Spaziergang keine öffentliche Inszenierung bürgerlichen Wohlstands und freier Zeit. Mit der Form des Landschaftsgartens als Modell eines liberalen Natur- und Gesellschaftsbildes war die äußere, mit der bürgerlichen Individuation die innere Voraussetzung geschaffen, um Natur zu genießen.“ (KÖNIG (1996), S. 14) Da stecken doch in dem von manchen als spießig verschrieenen Sonntagsspaziergang eine kleine Kulturrevolution und bemerkenswerte emanzipatorische Aspekte! Indem sich der Bürger des späten 18. Jahrhunderts herausgeputzt im Sonntagsstaat mit seiner Familie auf den Weg macht, ahmt er selbstbewusst herrschaftliches Freizeitverhalten nach und liegt in seinem Naturverständnis noch an der Spitze eines neuen Trends. Der Stadtbewohner, der in seinem beruflichen Alltag eher weniger mit der Natur verbunden ist, entdeckt um 1800 die nähere Umgebung, seine Heimat, die er mit Ausflügen, Picknicks, Landpartien und Spaziergängen erkundet (vgl. a. a. O., S. 15).

      In der heutigen Wanderforschung wie -praxis ist der Spaziergang ebenso ein Thema; man unterscheidet dabei zwischen zwei Varianten der kürzeren Fußtour, dem „urbanen Spazierbummeln“ und dem „Spazierwandern“. Wanderexperte Brämer definiert Spazierwandern als „wanderähnliche Spaziergänge von im Schnitt etwa 2 h Dauer und 5 km Länge – mit einer Spanne von 3 bis 7 km bei fließendem Übergang. […] Damit grenzt sich Spazierwandern eindeutig vom urbanen Spazierbummeln, aber auch vom rustikalen Wandern ab. Die Strecke entspricht gerade noch der lockeren Vorstellung vom Spazieren, eine vorzugsweise naturnahe Strecke vermittelt eine gewisse Wanderatmosphäre.“ (wanderforschung.de, 4/2015, S. 11) Hintergründiges und Praxisorientiertes zum aktuellen Spazierwandern bietet das → Kap. 2.1.

      ♦ Literatur

      BRÄMER, R. (2015): Spazierwandern. Das kleine Wandererlebnis zwischendurch. Oder: Die anspruchsvolle Alternative für Spaziergänger. Wanden als Natur- und Selbsterfahrung. Wanderforschung.de 4/2015

      BUTTLAR, A. v. (1989): Der Landschaftsgarten. Gartenkunst des Klassizismus und der Romantik. DuMont Buchverlag, Köln.

      KÖNIG, G. M. (1996): Eine Kulturgeschichte des Spaziergangs. Spuren einer bürgerlichen Praktik 1780–1850. Böhlau. Kulturstudien, Sonderband 20, Wien/Köln/Weimar.

      UERSCHELN, G.; KALUSOK, M. (2001) Kleines Wörterbuch der europäischen Gartenkunst. Reclam, Stuttgart.

      1.3 „Aus grauer Städte Mauern“ vor allem in die Berge – Wandern als neue Freizeitbeschäftigung für Bürger wie Arbeiter und als Protest der Jugend

      Gründerzeit, industrielle Entwicklung, Landflucht, beengte und ungesunde Wohn- und Lebensbedingungen in der Stadt, Arbeitszeiten von zwölf Stunden und mehr an sechs Tagen die Woche etc. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert und dem Beginn des 20. Jahrhunderts wird der Drang hinaus in die Natur in der arbeitsfreien Zeit erstmals zu einer Massenbewegung. Doch von einem gemeinsamen „demokratischen“ Strom ins Grüne kann keine Rede sein: Bürger und Arbeiter suchen getrennt ihre kurzzeitige Erholung in der Natur, selbst die Trennung der Geschlechter in unterschiedlichen Vereinen gehört oftmals noch dazu. Junge Wanderfreunde schließen sich auch lieber mit Gleichgesinnten ihrer Altersgruppe zusammen.

      Die Gattung der Wanderlieder, die schon von der romantischen Naturschwärmerei unter freiem Himmel profitierte, bekam nun ihre über Generationen bekannten – heute eher auf einer roten Liste stehenden – zur Allgemeinbildung gehörenden Lieder, wie zum Beispiel „Aus grauer Städte Mauern ziehen wir durch Feld und Wald“, „Wenn die bunten Fahnen wehen“ oder „Wenn wir erklimmen schwindelnde Höhen, steigen dem Gipfelkreuz zu“. Beim Wandern oder abends am Lagerfeuer gesungen zur Klampfe alias Gitarre waren sie fester Teil der Wanderkultur und der damit verbundenen Geselligkeit.

      In dieser Pionierzeit der Wander- und Bergvereine im späten 19. Jahrhundert entstehen bereits die Wanderunterkünfte der „ersten Generation“ und die ersten Wander- und sogar ausgewiesenen Fernwanderwege. Aus den Anfängen des Schulwanderns geht 1909 in Deutschland die Idee der Jugendherbergen hervor.

      1.3.1 Die Alpenvereine

      Der erste Alpenverein wurde fern der Alpen gegründet; bedenkt man jedoch, dass die Briten die Weltmeister des Reisens im 19. Jahrhundert waren, ist es wiederum nicht verwunderlich, dass man 22. Dezember 1857 in London mit dem Alpine Club den ersten Bergsteigerverein der Welt aus der Taufe hob. Wer – natürlich nur männlichen Geschlechts – eine respektable Liste von Bergbesteigungen aufzuweisen hatte, konnte in den exklusiven Kreis aufgenommen werden. Damen konnten wegen ihrer geschlechtsbedingten physischen und psychischen „Defizite“ in diesen Kreis nicht aufgenommen werden. Daraufhin gründeten die Damen, darunter auch Ehefrauen von Herren des Alpine Clubs, 1907 natürlich auch in London den Ladies’ Alpine Club. Erst im Jahre 1975 waren die bergsteigenden Herren mental soweit, dass sie auch gipfelstürmende Damen in ihren Verein aufnehmen konnten; es hatte sich nun eine Mehrheit für eine Vereinigung des Ladies’ Alpine Club mit dem Alpine Club gefunden.

      Die Absicht dieser Vereinsgründung war es, den Mitgliedern einen geeigneten Ort für Zusammenkünfte zu geben, wo sie sich zur Vorbereitung schwierigerer Bergtouren treffen und austauschen, sowie Karten und Bücher aus der im Aufbau befindlichen Vereinsbibliothek zurate ziehen konnten. „The members will occasionally dine together at their own expense, but the funds of the Club will be made available when on suitable occasions the Club is favoured by the presence of geographical explorers, or by that of other guests of celebrity. First circular concerning the Alpine Club, 1857.“ ( www.alpine-club.org.uk/alpineclub/ objectives.htm) Aus nachvollziehbaren praktischen Gründen wählte der Alpine Club anfangs Hotels zu seinem Vereinssitz.

      In den Anrainerstaaten der Alpen begann

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